Missbrauchsopfer wird zum Täter

Zwischen 2002 und 2021 soll ein 47-jähriger Gießener 41 Sexualdelikte an Minderjährigen begangen haben. Unter anderem wirft ihm die Staatsanwaltschaft den sexuellen Missbrauch von drei Jungen vor. Der Angeklagte gibt einige der Taten zu - und erzählt am Landgericht, dass er als Kind selbst sexuell missbraucht wurde.
Dieser Lehrer… Als der heute 47 Jahre alte Mann über seinen damaligen Lehrer sprechen soll, bricht er in Tränen aus und schlägt mehrmals mit den flachen Händen auf den Tisch. Er atmet tief durch, kneift seine Augen fest zusammen, als ob ihn das schützen würde. Dann erzählt er, dass er zwischen seinem 8. und 18. Lebensjahr regelmäßig von diesem einen Lehrer sexuell missbraucht wurde. Der Vorsitzende Richter der 1. großen Strafkammer am Landgericht Gießen, Andreas Wellenkötter, hört dem Angeklagten lange zu. Dann fragt er: Wieso habe er mit dem Wissen, wie sich ein Kind fühlt, dem so etwas angetan wird, dann selbst Minderjährige missbraucht? Der im Rhein-Main-Gebiet geborene und aufgewachsene Mann schweigt kurz, bevor er sagt: »Ich habe niemanden gezwungen. Aber ich weiß, dass es nicht richtig ist.«
Öffentlichkeit zum Teil ausgeschlossen
Am Mittwoch ist vor dem Landgericht Gießen das Verfahren gegen den 47-Jährigen eröffnet worden. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, insgesamt 41 Sexualdelikte begangen zu haben. Staatsanwältin Daniela Zahrt spricht in ihrer Anklageverlesung davon, dass er sexuelle Handlungen an mindestens drei Kindern vorgenommen haben soll. Betroffen sind unter anderem ein Junge ab dem Alter von zehn Jahren zwischen 2002 und 2007 und ein weiterer Zehnjähriger im vergangenen Jahr. Bei den Anklagepunkten, die diesen Geschädigten betreffen, schließt das Gericht die Öffentlichkeit vom Verfahren aus, um den Jungen zu schützen.
Außerdem soll der Gießener von einigen der Handlungen Videos gemacht haben. Dem Mann wird auch vorgeworfen, Kindern Aufnahmen vom sexuellen Missbrauch an Minderjährigen vorgespielt zu haben, von denen er zahlreiche Dateien auf Festplatten gespeichert hatte - neben weiteren pornografischen Darstellungen unterschiedlicher Art. Dabei soll er die familiären Probleme eines Geschädigten ausgenutzt und dem anderen Jungen Geld gegeben haben. Weil der Angeklagte immer wieder darauf verweist, dass er die Kinder zu den Handlungen nicht gezwungen habe, fragt Richterin Myriam Rempel später, ob das Geld, das er einem Jungen nach den sexuellen Handlungen gegeben habe, nicht auch eine Form von Zwang sei.
Rechtlich vertreten wird der 47 Jahre alte Mann vom erfahrenen Strafverteidiger Ramazan Schmidt. Der erklärt zu Beginn der Verhandlung: »Es geht um massivste Vorwürfe über einen langen Zeitraum.« Seinem Mandanten sei es wichtig, einen Schlussstrich zu ziehen und sich im Rahmen der öffentlichen Hauptverhandlung seiner Verantwortung zu stellen. Der erste Versuch einer Einlassung des Mannes ist aber so unstrukturiert, dass Wellenkötter die Tatvorwürfe einzeln mit ihm durchgeht und sein Richterteam sowie die Staatsanwältin Nachfragen stellen.
Dabei wird das Bild eines Mannes gezeichnet, dessen Mutter ihn nicht geliebt, dafür umso mehr geschlagen habe. Bereits in seiner Kindheit habe er bis auf seinen Hund keine Freunde finden können. Ab der zweiten Klasse seien er und weitere Klassenkameraden von ihrem Lehrer sexuell missbraucht worden. Gerade mit den ebenfalls betroffenen Mitschülern, die zum Teil im Haus des Lehrers unten an einer Spielekonsole zockten oder Bier tranken, während oben einer der Jungen missbraucht wurde, habe er zum ersten Mal so etwas wie Gemeinschaft erlebt. Über den Missbrauch geredet habe aber niemand. »Wenn einer nach oben musste, hat keiner was gesagt, aber alle wussten, was da passierte«, sagt er.
Der Lehrer wurde später wegen des sexuellen Missbrauchs verurteilt und starb im Gefängnis. Der Angeklagte erhielt anschließend eine Opferentschädigung.
Mit acht Jahren habe er sein erstes Bier getrunken; seitdem sei Alkohol sein steter Begleiter gewesen - in zunehmendem Maß, erzählt der Angeklagte. Zuletzt habe er am Tag mehrere Flaschen Schnaps getrunken - in der Regel so lange, bis er »umgefallen« sei. Sein Rechtsanwalt Schmidt betont, dass sein Mandant bei allen Taten »erheblich unter Alkoholeinfluss gestanden hat«. Ob dies der Fall war, wird auch Thema im Gutachten des Psychiaters und Sachverständigen Jens Ulferts sein.
In der Wohnung des Angeklagten
Die Taten geschahen in der Wohnung des Mannes in der Nordstadt. Die Geschädigten sind Nachbarskinder; einer soll den 47-Jährigen gegenüber Freunden als »Patenonkel« oder »Onkel« bezeichnet haben. Er gab ihnen zum Beispiel Feuer für Zigaretten oder ließ sie an seinem Computer PC-Spiele spielen - und baute so ein Vertrauensverhältnis zu ihnen auf.
Als er angibt, dass die Kinder immer anhänglicher geworden seien, dass ein Kind initiativ die Hose heruntergezogen habe, um Geld für ein Online-Spiel zu bekommen, interveniert Wellenkötter sofort: »Sie sollten aufpassen, was Sie aussagen, und nicht den Kindern die Schuld geben.« Der Angeklagte rudert zurück: »Ich will den Kindern nicht die Schuld geben. Ich bin Schuld. Ich alleine. Und ich habe diese Strafe verdient.«
Der Gießener sagt, er sei nicht pädophil oder homosexuell, sondern interessiere sich für Frauen. Eine Partnerin habe er aber nie gehabt. Auf die Frage Wellenkötters, warum er dann an den Jungen sexuelle Handlungen vorgenommen habe, kratzt er sich am Kopf und sagt: »Was schön war, waren die Berührungen. Dass man mich berührt und umarmt. Das macht ja sonst keiner.«