Der Menschenwürde verpflichtet

Der 9. November ist in der deutschen Geschichte ein Tag der Wendepunkte: 1989 fiel die Mauer, 1938 brannten die Synagogen. Auch in diesem Jahr erinnerten Gießener vor der Kongresshalle an die Pogromnacht vor 82 Jahren. Dabei fanden die Redner mahnende Worte.
Die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 war nicht der Beginn der Verfolgung jüdischen Lebens in Deutschland. Bereits viele Jahre zuvor wurden Menschen mit jüdischem Glauben diskriminiert, eingeschüchtert und misshandelt. Die von den Nationalsozialisten organisierten und umgesetzten Gewalttaten in der Pogromnacht markierten jedoch den Punkt, an dem Rassismus und Antisemitismus offiziell zur Staatsräson wurden. Die Ereignisse stehen für eine Entwicklung, an deren Ende sechs Millionen Juden systematisch ermordet wurden. Auch in Gießen brannten die beiden jüdischen Gotteshäuser an der Steinstraße und an der Südanlage, plünderten Gießener jüdische Geschäfte und misshandelten ihre Mitmenschen, verschleppten die Nationalsozialisten etliche Männer der Gemeinde in Vernichtungslager.
Um an diesen Zivilisationsbruch zu erinnern, hatte der Magistrat der Stadt zusammen mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Gießen-Wetzlar, der Jüdischen Gemeinde, dem Evangelischen Dekanat und dem Katholischen Dekanat zum Gedenkstein für die ehemalige Synagoge vor der Kongresshalle eingeladen. Fast 200 Menschen waren am gestrigen Montagnachmittag - mit Masken und Abstand - gekommen. Weil es sich bei der Versammlung um eine Trauerfeier handelte, durfte sie trotz der Corona-Verordnung stattfinden.
Pfarrer Cornelius Mann von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit sagte, in diesem Jahr seien an dem Gedenken wegen der Corona-Pandemie keine Schüler beteiligt. Dennoch hätten die Organisatoren die Veranstaltung nicht komplett ausfallen lassen wollen. Er begründete dies mit der Zunahme antisemitischer Straftaten, Äußerungen und Einstellungen - »von rechts bis in die Mitte der Gesellschaft.«
»Juden ziehen sich zurück und zeigen ihren Glauben nicht öffentlich«, sagte Mann. Mauern um die Synagogen herum würden höher, Fenster und Türen der Gemeinden verschlossen. Jüdisches Leben stehe unter Polizeischutz. Viele würden sich fragen: »Ist man hier noch willkommen?«
Mann appellierte, deshalb weiter an die Verbrechen der Nationalsozialisten zu erinnern, junge Menschen immun zu machen gegen »die Rattenfänger von heute« sowie jüdisches Leben zu schützen. Jeder Form von Hass müsse entgegengetreten werden. »Wir sind verpflichtet, die Menschenwürde aller Menschen zu schützen.«
Gießens Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz zitierte in ihrer Rede einen Auschwitz-Überlebenden, als sie sagte: »Du sollst nicht gleichgültig sein.« Schutz vor dieser Gleichgültigkeit sei das Erinnern in den unterschiedlichen Formen. In diesem Zusammenhang kritisierte sie Corona-Leugner, die mit einem gelben Stern auf der Brust - aber ohne Abstand und Maske - demonstrieren. »Das ist zynisch, geschichtsvergessen und unerträglich.« Genauso wie Grabe-Bolz wies Marina Frankfurt, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gießen, auf einen Jahrestag im kommenden Jahr hin: Gefeiert werde 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Die Oberbürgermeisterin erinnerte in diesem Zusammenhang an Gießener jüdischen Glaubens, die die Stadt geprägt haben. Und Frankfurt betonte: »Wir dürfen das Andenken nicht verraten, die Ereignisse nicht vergessen und alles tun, damit es nicht noch einmal passiert.«
Geistliche Worte lasen Dekan André Witte-Karp von der evangelischen Kirche und Gemeindereferentin Uta Kuttner von der katholische Kirche; ein Rabbiner ein Totengebet. Nach der Kranzniederlegung durch die Oberbürgermeisterin und den Stadtverordnetenvorsteher Frank Schmidt endete die Veranstaltung.
Der sonst stattfindende Mahngang zur Erinnerung an die antisemitischen Novemberpogrome 1938 der Studentischen Initiative gegen Antisemitismus fand in diesem Jahr online statt. Kooperationspartner waren die Deutsch-Israelischen Gesellschaft Gießen, die Initiative gegen das Vergessen, das Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus Gießen sowie das Netzwerk für politische Bildung, Kultur und Kommunikation.