Lob, Kritik - und viele Erwartungen

»Wie, das ist schon wieder ein Jahr her?« Diese Rückfrage hörten wir oft, als wir Menschen aus Politik, Stadtgesellschaft, Arbeitsumfeld und Familie baten, ihren Eindruck vom ersten Amtsjahr des neuen Oberbürgermeisters Frank-Tilo Becher zu schildern. Als Typ kommt der neue Rathauschef offenbar überall gut an. Am Politiker Becher scheiden sich naturgemäß die Geister.
Bettina Weber und Birgit Baaser managen das Büro des Oberbürgermeisters im Rathaus: »Wir freuen uns, dass die Zusammenarbeit auch auf der menschlichen Ebene sehr gut funktioniert und wir eine freundliche, wertschätzende Atmosphäre im Büro haben. Dass es so gut harmoniert, ist ja nicht selbstverständlich, wenn Menschen sich vorher nicht kannten. Aber wenn man so eng zusammenarbeitet, ist das natürlich wichtig. Am Anfang mussten wir uns erst einmal kennenlernen: Was ist ihm wichtig, was sind seine Prioritäten - auch bei der Terminkoordination? Oder worauf legt er Wert, wenn wir ihm Unterlagen zusammenstellen? Und natürlich ganz wichtig: Wie trinkt er seinen Kaffee am liebsten? Nach einem Jahr hat sich das natürlich längst eingerüttelt und alles läuft rund. Mittlerweile kennen wir auch die Süßigkeiten, die am besten zur Stressbewältigung beitragen.«
Vera Strobel, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Stadtparlament: »Seit einem Jahr arbeite ich als Vorsitzende der stärksten Fraktion und als parlamentarische Koalitionsspitze mit Frank-Tilo Becher in unserer grün-rot-roten Koalition zusammen. Die Zusammenarbeit mit ihm ist äußerst angenehm und produktiv. Er hat sich vieler wichtiger Projekte und verantwortungsvoller Aufgaben angenommen und treibt diese engagiert voran. Besonders schätze ich sein unaufhörliches Engagement zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und Einheit in unserer Stadt und zu ganzheitlichen Ansätzen. An ihm persönlich schätze ich seine respektvolle und zugängliche Art sehr.
Für die kommenden Jahre erwarte ich, dass unser Oberbürgermeister hinsichtlich nachhaltiger Wirtschaftsförderung, Gleichberechtigung und Queer sowie Kultur und Sport die wichtigen Projekte unserer Koalition weiter vorantreiben wird. Ich wünsche mir, dass er sich auch zukünftig so offen für neue Ideen und Ansätze zeigt und sich weiter leidenschaftlich für unsere Stadt und besonders die Gießener Bevölkerung einsetzt.«
Frederik Bouffier, Vorsitzender der Gießener CDU: »Frank-Tilo Becher haben wir bislang als freundlichen Gesprächspartner kennengelernt. Es ist allerdings auch nach über einem Jahr gänzlich unklar, wie er die Stadt entwickeln will. Akzente oder gar inhaltliche Schwerpunkte sind bislang überhaupt nicht erkennbar. Inhaltlich weiß man oftmals gar nicht - anders als etwa bei Bürgermeister Wright -, wofür er steht und wo man bei ihm ›dran ist‹. Der OB scheint einen moderierenden Führungsstil zu präferieren. Dies setzt aber auch tatsächliche Führung voraus. Gemessen an den Initiativen der vergangenen zwölf Monate in der Stadtverordnetenversammlung geht diese Führung praktisch ausschließlich von den Grünen aus. Dass der OB auf die Kämmerei und damit die Hoheit über die Finanzen zugunsten von Wright verzichtete, spricht Bände über die Machtverhältnisse im Magistrat. Aber auch in den Dezernaten, in denen der OB Verantwortung trägt - Sport, Kultur, Brand- und Bevölkerungsschutz oder Wirtschaft -, konnte man in den letzten zwölf Monaten leider keinen wirklichen Fortschritt erkennen. Wir erwarten, dass sich Herr Becher stärker in die inhaltliche Arbeit einbringt und als OB die Leitlinien der Stadtpolitik bestimmt. Wir werden seine Arbeit sowie der gesamten Koalition weiterhin konstruktiv kritisch begleiten.
Lutz Hiestermann, Fraktionsvorsitzender von Gigg/Volt: »Als Fraktion haben wir registriert, dass sich der Kommunikationsstil des Oberbürgermeisters doch deutlich positiv abhebt vom dem anderer Magistratsmitglieder. Nach dem ersten Amtsjahr bleibt aber festzustellen, dass er sein Thema noch nicht gefunden hat. Das Ziel, Gießen bis zum Jahr 2035 klimaneutral zu machen, ist es jedenfalls nicht. In anderen Städten ist Klimaschutz Chefsache, in Gießen überlässt der Oberbürgermeister dieses Feld komplett anderen. Dabei könnte Herr Becher gerade bei diesem Thema, bei dem man viele Bevölkerungsgruppen mitnehmen muss, seine Kommunikationskompetenz einbringen. Auch ansonsten ist der OB zu wenig wahrnehmbar. Ich selbst sitze in den zwei großen Fachausschüssen, dort überlässt er das Spielfeld zu oft ebenfalls den anderen Dezernenten. Was eine Folge der Dezernatsverteilung sein mag. Die hat er aber selbst vorgenommen.
Wir erwarten uns vom OB, dass er sich beim Klimaschutz mehr einbringt. Auch der große Wurf bei der Bürgerbeteiligung steht noch aus.
Jutta Becher, Pfarrerin sowie Geschäftsführerin der evangelischen Studierendengemeinde in Gießen und Ehefrau:
»Dass mein Mann sich morgens nach einem Jahr als Oberbürgermeister schwungvoll und mit einem Lächeln im Gesicht auf den Weg ins Rathaus verabschiedet, freut mich sehr. Was er zu tun hat, tut er sehr gerne. Natürlich ist manchmal zu Hause auch spürbar, dass die Komplexität der aktuellen Herausforderungen viel Kraft kostet. Vor der umfangreichen Arbeitsbelastung - die Tage sind oft lang, die Wochenenden oft voll mit Terminen - habe ich großen Respekt. Kennzeichnend für meinen Mann sind seine politisch-kreative Weitsicht, seine gute Menschenkenntnis und sein von grundsätzlicher Akzeptanz geprägter Führungsstil. So habe ich ihn als Pfarrer, als Dekan, als Landtagsabgeordneten und auch als Familienvater mit unseren drei Kindern erlebt. Ein positiver Mensch, dem genau das wichtig ist und der darin seine Fähigkeiten stets weiterentwickelt hat.
Ich wünsche ihm heute, dass sein Beitrag als Oberbürgermeister der Stadt und ihren Bürgern zum Besten dient und darin erfolgreich ist. Familiär hat er sich zeitgleich mit der Bewerbung um das Amt auf die Adoption einer Hündin eingelassen, obwohl er bis dahin kein Hundefreund war. Lisbeth ist inzwischen »sein Hund« und sorgt gemeinsam mit mir für die sozial-emotionale Balance, wenn im Rathaus Feierabend ist.«
Heinz-Jörg Ebert, Vorsitzender des BID-Vereins Seltersweg: »Den Oberbürgermeister begleiten wahrlich herausfordernde Zeiten in seiner ersten Amtszeit. Coronaauswirkungen, Energiekrise, Inflation, Krieg in Europa… alles spürt man auch in Gießen. Und hier daheim? Allein in der Innenstadt: Zukunft Galeria, Verkehrsversuch, Mobilität, Erreichbarkeit, Innenstadt neu denken, Oberzentrumsfunktion gewährleisten… Frank-Tilo Becher kann in Gießen auf ein ausgeprägtes Miteinander vieler Institutionen bauen, die mit anpacken wollen - und es bereits an vielen Stellen beweisen. Wir gehören sicherlich dazu und fühlen uns von ihm eingebunden.
Wenn es ihm gelingt, für unsere Stadt eine klare Positionierung, ein motivierendes, greifbares und begeisterndes Zukunftsbild auf den Weg zu bringen, wird es eine Kraft entwickeln und mir wird nicht bange, dass Gießen Krisenstimmungen in Chancen verwandelt. Dazu wünscht ihm der BID-Seltersweg alles Gute - bei bester Gesundheit!«
Heinz Zielinski, Vorsitzender des Sportkreises Gießen: »Nach einem Jahr mit dem neuen Oberbürgermeister, der auch Sportdezernent ist, kann ich aus der Sicht des Sportkreises feststellen: Es hat sich nichts Wesentliches bei der Sportentwicklung der Stadt Gießen getan. Aus meiner Sicht muss man der gesellschaftlichen Bedeutung des Sports mit mehr Taten gerecht werden. Hierbei sehe ich selbstverständlich auch die großen Gegenwartsprobleme und die damit verbundenen Schwierigkeiten bei der Gestaltung von Politik.
Der Sportkreis hat Erwartungen, die im Gespräch mit dem Oberbürgermeister erörtert und deutlich gemacht wurden. Im Bereich der Sportstätten muss mehr getan werden bzw. müssen Projekte forciert werden. Ich nenne hier den Neubau der Sporthalle der Liebig-schule, aber auch weiterer Hallen wie die für den MTV 1846 Gießen oder auch den Sportplatzbau. Auch in anderen Bereichen wie der Förderung des Ehrenamts, der Entwicklung von Übungsleitern, dem Leistungs-, Schul- und Vereinssport erwartet der Sportkreis Initiativen und Taten der Stadt - und ihres OB.«
Im traditionellen Silvester-Interview wird OB Frank-Tilo Becher am 31. Dezember selbst über sein erstes Jahr, aktuelle Themen und Herausforderungen reden.