Leere Lager bei der Gießener Tafel: »Da werden ganz schnell sehr viele Menschen in eine Schieflage geraten“

Die Liste an Haushalten, die auf Lieferungen der Gießener Tafel warten, ist so lang wie noch nie. Im Lager herrscht aber Ebbe. Die Lage vor Ort spitzt sich zu.
Gießen – Die Hilferufe der Tafeln sind in ganz Deutschland zu hören. Ein Besuch vor Ort zeigt, dass die Lage noch dramatischer ist, als bislang zu vernehmen war. Die Gießener Tafel steht vor ganz besonderen Problemen, die sich ohne fremde Hilfe wohl nicht lösen lassen werden.
Organisationsleiterin Anna Conrad geht über den Hof der Gießener Tafel im Leimenkauter Weg. Vor einem der Container, in denen Hygieneartikel gelagert werden, sitzt ein junges Mädchen. Es wartet darauf, dass Mama die Ration an Lebensmitteln verstaut hat, die die Familie über die nächste Woche bringen soll. Conrad fischt eine Packung Buntstifte aus einer Kiste und schenkt sie dem Kind, das sofort zu strahlen beginnt. Dieses Lächeln ist für Conrad wichtig. Es zeigt ihr, dass sie mit ihrer Arbeit etwas Leid lindern und vor allem den Kleinsten mal eine Freude machen kann. Das ist ihr Antrieb - gerade in diesen Tagen, in denen die 35-Jährige selbst nicht weiß, wie es bei der Tafel weitergehen soll.
Gießen: 300 Haushalte auf der Warteliste der Tafel
Eine halbe Stunde früher in Conrads Büro. Auf ihrem Schreibtisch liegt ein Stapel Formulare. 40 bis 50 Bögen vielleicht. Ausgefüllt von Menschen, die darauf hoffen, von der Tafel in die Grundversorgung aufgenommen zu werden. Für eine alleinstehende Person bedeutet das alle 14 Tage eine Kiste mit Lebensmitteln. Obst und Gemüse, das im Supermarkt keiner mehr will, Molkereiprodukte jenseits der Mindesthaltbarkeit oder Gebäck vom Vorvortag. Zwei-Personen-Haushalte erhalten jede Woche eine solche Kiste, drei Personen bekommen zwei. Am Abend will Conrad die Formulare erfassen und die Personen auf die Warteliste setzen.
Die ist im Moment aber schon so lang wie nie. »300 Haushalte warten darauf, dass wir sie regelmäßig versorgen. Zu normalen Zeiten waren das mal 20 bis 30 und wir haben es in der Regel geschafft, sie nach etwa sechs Wochen aufzunehmen. Die jetzt Wartenden werden wir in diesem Jahr nicht alle versorgen können.« In Conrads Worten liegt Verzweiflung. Denn es werden täglich mehr.
3300 Menschen versorgt die Gießener Tafel im Leimenkauter Weg und in den fünf Außenstellen regelmäßig, darunter etwa 1000 Kinder unter 14 Jahren. »Was den Regelbetrieb angeht, sind wir damit an unserer Kapazitätsgrenze«, sagt Conrad. Da die Lebenshaltungskosten stark angestiegen sind, suchen aber immer mehr Menschen die Tafel auf, um akute Notfallsituationen überstehen zu können.
Gießener hat 30 Prozent weniger Waren
Kühlschrank oder Gastank? Abendbrot oder Benzin? Duschgel oder die Nachzahlung für Strom? Für viele Familien in und um Gießen sind das gerade keine rhetorischen Fragen. Um ihnen einmalig und kurzfristig aus der Klemme zu helfen, hat Conrad Notfalltüten packen lassen mit Nudeln, Reis, Hygieneartikeln. 700 dieser Tüten hat die Tafel in den vergangenen Wochen verteilt. Der Großteil ging an Menschen aus der Ukraine, die nach der Flucht vor dem Krieg plötzlich vor dem Nichts standen. »Hier kommen jeden Tag zwischen 25 und 30 Familien an, denen geben wir eine Tüte. Erst nach drei Wochen können sie wieder kommen«, berichtet Conrad von den Regeln. »Wer früher kommt, den müssen wir wegschicken. Denn unsere Lager sind leer.«
Neben der massiv größer werdenden Nachfrage aufgrund gestiegener Lebensmittel-, Energie- und Kraftstoffpreise sowie der großen Anzahl Geflüchteter aus der Ukraine gerade in Gießen leidet die Tafel unter eingebrochenen Spendensummen und immer weniger zur Verfügung gestellter Waren. »Im November und Dezember vergangenen Jahres hatten wir 80 Prozent weniger Spendeneinnahmen. Die Waren, die wir in Geschäften abholen dürfen, sind zuletzt um etwa 30 Prozent zurückgegangen«, berichtet Conrad, da manche Händler Wege gefunden hätten, selbst die Produkte, die früher an die Tafel gegeben worden sind, selbst noch zu verkaufen. Das habe dazu geführt, dass man an manchen Tagen 20 bis 30 Kisten für die regelmäßigen Abholtermine nicht habe füllen können. »Dann entscheiden Sie mal, wer jetzt ein Brot bekommt und wer nicht.«
Zudem seien Großspenden durch Sammelaktionen von Firmen oder Parteien in der Corona-Pandemie ausgeblieben. Da Geburtstage und Firmenfeiern ausgefallen sind, konnten auch dort keine Spenden gesammelt werden. »Es gibt verschiedene Gründe. Es ist auch viel Geld ins Ahrtal gegangen. Das ist nachvollziehbar, uns fehlt es trotzdem«, sagt Conrad. Und viele, die uns seit Jahren unterstützen, haben das Geld selbst nicht mehr übrig.«
Gießen: »Da werden ganz schnell sehr viele Menschen in eine Schieflage geraten“
Ein Ende der Krise ist nicht in Sicht. »Wir stellen uns täglich die Frage, wie wir das Angebot aufrechterhalten können«, sagt auch Holger Claes, der Leiter des Diakonischen Werks. »Wenn sich die Lage noch verschärft. weiß ich nicht, wo die Tafel am Ende steht. Wir werden irgendwann sagen müssen, es geht nicht mehr«, betont Claes, der die Tafel in Gießen aufgebaut hat. Für Mitarbeiter und Ehrenamtler gleichermaßen sei die Situation derzeit sehr belastend. Schon jetzt gehe die Sorge um. wie es im Juni und Juli werde, wenn die meisten Vermieter die Nebenkostenabrechnungen verschicken würden.
»Da werden ganz schnell sehr viele Menschen in eine Schieflage geraten. Wir brauchen jetzt Unterstützung«, fordert Conrad. Die Politik ist gefragt. »Aber auch jede 10 Euro helfen uns«, sagt sie. Aufgrund der Haushaltssituation müsse auch sie sich für die Tafel Gedanken machen, ob sie die Miete noch zahlen und die Transporter noch tanken könne. »Wir müssen uns fragen, wie lange geht das noch gut?«.
Junge Kirche sammelt
Die Junge Kirche, Löberstraße 4, sammelt heute bis 18 Uhr und von Mittwoch bis Freitag bis 14 Uhr Spenden für die Tafel. Reis, Nudeln, Tee, Kaffee, Milch, Konserven, Kekse, Marmelade und Hygieneartikel können dort abgegeben werden. Geldspenden nimmt die Tafel über das Konto der Diakonie entgegen: IBAN: DE58 5135 0025 0200 5135 08
Verwendungszweck: Tafel.
Die Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen ist bereits an ihre Kapazitätsgrenze gestoßen.