»Lackmustest« für die Grünen

Das Stadtparlament hat mit großer Mehrheit der Einleitung einer Planung für die Firmenerweiterung von Bieber+Marburg zugestimmt. Während sich die meisten Fraktionen bereits zu dem Vorhaben, das mit der Rodung von vier Hektar Wald verbunden wäre, klar positionierten, sprechen die Grünen von einem »ergebnisoffenen« Verfahren. Gigg/Volt erklären das Projekt zum »Lackmustest« für die führende Regierungspartei.
Hätte sich eine Mehrheit der Stadtverordneten an dem orientiert, was die gut 20 Spalier stehenden Demonstranten vor dem Eingang zur Kongresshalle am Donnerstagabend forderten, hätte das Gießener Bau- und Stahlunternehmen Bieber+Marburg seine Erweiterungspläne zu den Akten legen können. »Kein Quadratmeter mehr« stand auf den Bannern, die die Bodenschützer, darunter auch Mitglieder des Grünen-Kreisverbands wie Tim van Slobbe, in die Höhe hielten.
Im Ergebnis der Abstimmung über die Einleitung eines vorhabenbezogenen Bebauungsplans für die Erweiterung des Betriebsgeländes am Steinberger Weg indes spiegelte sich der Protest nicht wider. Mit der großen Mehrheit von Grünen, CDU, SPD, Gießener Linke, FDP, Freien Wählern und AfD wurde die Aufstellung des Bebauungsplans befürwortet, dagegen stimmten die drei anwesenden Vertreter von Gigg/Volt und die beiden Stadtverordneten der PARTEI, Enthaltungen gab es keine.
Bei den Fraktionen, die die Erweiterung, die mit dem Verlust von vier Hektar Schutz- und Erholungswald verbunden wäre, befürworten, war die Zustimmung in diesem frühen Stadium der Planung bereits mit einer Positionierung in der Sache verbunden. Das trifft für CDU, FDP und Freie Wähler zu, die mit der Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen sowie den Gewerbesteuereinnahmen argumentierten.
Aber auch die SPD wies in Person von Kaymar Mansoori auf die Anstrengungen von Bieber+Marburg speziell im Ausbildungsbereich hin. Für die Sozialdemokraten sei die Entwicklung des Industrieunternehmens durchaus ein »Herzensprojekt«, sagte Mansoori in Anspielung auf seinen Vorredner Michel Zörb von den Grünen.
Zörb hatte an die außerparlamentarischen Kritiker aus den Bodenschutz-Initiativen appelliert, das Thema »nicht vorauseilend« zu diskutieren. Mit der Einleitung der Planung beginne ein »ergebnisoffener« Entscheidungsprozess, in dessen Verlauf Magistrat und Koalition »alle Fakten auf den Tisch legen werden«, sagte Zörb. Eine Firmenerweiterung, die mit vier Hektar Waldverlust verbunden wäre, zähle für die Grünen vor dem Hintergrund des ambitionierten Ziels, Gießen bis 2035 in eine klimaneutrale Stadt umzubauen, »nicht zu den Herzensprojekten«.
Planungsdezernentin Gerda Weigel-Greilich (Grüne) sprach von einem »schwierigen, aber wohlüberlegten Schritt«. Der Planungsprozess mit umfassender Umweltprüfung könne auch zum Ergebnis führen, dass der Wald nicht gerodet werden dürfe. Für die Stadträtin steht gleichwohl fest, dass eine Zweiteilung des Firmenstandorts oder gar eine komplette Verlagerung - beides kommt für Bieber+Marburg nicht in Frage - ökologisch schädlicher wäre als die beabsichtigte Erweiterung.
Die wird von der Klimaschutz-Fraktion Gigg/Volt, die sich im Ausschuss noch enthalten hatte, abgelehnt. Angesichts der Tatsache, dass der Magistrat dem Stadtparlament verschwiegen habe, dass die 2009 erfolgte Erweiterung mit der klaren Festlegung verbunden war, dass ein weiteres Wachstum an diesem Standort nicht mehr möglich ist, schenke man den Zusicherungen der Koalition und der Planungsdezernentin keinen Glauben, sagte Fraktionschef Lutz Hiestermann. Stadt, Unternehmen und die Regionalplanung des RP hätten von dieser Festsetzung aus 2009 gewusst, trotzdem sei sie jetzt nicht kommuniziert worden. Die Wahrheit sei, dass die jetzt geplante Erweiterung »doch längst eingetütet ist«. Insbesondere die jungen Mitglieder der Grünen-Fraktion müssten sich jetzt zwischen wirksamem Klimaschutz und der investorenfreundlichen Politik der Planungsdezernentin entscheiden. Das Projekt werde zum »Lackmustest« für die klimapolitische Glaubwürdigkeit der Grünen, betonte Hiestermann.
FW-Fraktionschef Heiner Geißler fühlte sich in den ausgesprochenen Warnungen seiner Fraktion vor dem Klimaschutzbeschluss Gießen 2035Null bestätigt. Das aus Sicht der FW unrealistische Ziel, in Gießen bis 2035 zur Klimaneutralität zu kommen, war im September 2019 von SPD, Grünen, CDU und Linken im Stadtparlament beschlossen worden. Geißler: »Wer damals zugestimmt hat, dürfte für diese Firmenerweiterung heute Abend nicht die Hand heben.«