Kurz vor zwölf kommt der Hunger

Gemüse, Blumen und Käse liegen im Einkaufskorb. Und dann? Dann wird gerne der Lust auf die Köstlichkeiten nachgegeben, die es auf dem Wochenmarkt sonst noch gibt. Das ist für viele Marktbesucher ein liebgewordenes Ritual: Erst einkaufen, dann essen. Bei Suppe, Würstchen, Leberkäse oder Crêpes hat der kleine Hunger keine Chance. Neuerdings gibt’s auch deftige Eintöpfe aus der Feldküche.
Suppe ist fertig! Wilfried Kybart rührt in einem großen Kessel. Es ist 11.30 Uhr, noch hat er nicht viel verkauft von seinen Suppen. »Die Hessen essen nach der Uhr und nicht, wenn sie Hunger haben«, behauptet »der Neue« auf dem Gießener Wochenmarkt. Über diese These des Berliners ließe sich streiten, aber dazu hat niemand Lust an diesem warmen, spätsommerlichen Mittwoch.
Heiß auf Nierengulasch
Kybart steht seit vergangenem Samstag mit seiner Feldküche am Kirchenplatz und verkauft Linsensuppe, Erbsensuppe, Gulaschsuppe und Nierengulasch. »Besonders Männer lieben die Nierchen«, sagt Claudia Kybart, die gemeinsam mit ihrem Mann die Suppenkellen schwingt. »Das stimmt«, sagt eine ältere Frau, die sich eine Schüssel abfüllen lässt. »Ich esse das nicht, aber mein Mann ist verrückt danach«. Bei der nächsten Kundin ist es die Mutter, die sich auf Nierengulasch freut. Sie fragt, ob es »beim Berliner« auch Einmachgläser mit der selten gewordenen Spezialität gibt. »Nee, dit hamwa nich«, sagt der Feldküchen-Chef. Er hat außer seinen Plastikschüsseln nichts zu bieten und bittet seine künftige Stammkundschaft darum, eigene Behälter mitzubringen.
Gläser zum Mitnehmen gibt es am anderen Ende des Marktes kurz vor dem Landgraf-Philipp-Platz. In Reih und Glied stehen sie appetitlich aufgereiht am Stand von »Birkenhof-Suppen«. Dort locken jeden Mittwoch »Opas Hühnersuppe«, Chili con Carne, Kartoffelcremesuppe und vieles mehr zum Mitnehmen, aber man kann die Suppen auch direkt vor Ort löffeln. »Die Kollegen vom Gericht kommen jede Woche«, sagt eine Kundin, die sich freut, dass es endlich wieder Kürbissuppe gibt.
Ebenfalls nur mittwochs vor Ort ist »Pauls Suppenküche und Woschtbud«. Inhaber Thomas Henkel plant jedoch, demnächst auch samstags seine Eintöpfe und Würstchen anzubieten. Er weiß schon lange, wie der Imbissbetrieb auf dem Wochenmarkt funktioniert: »Das ist ein Stoßgeschäft, bis elf Uhr läuft nicht viel, aber kurz vor zwölf geht es richtig los.« Wenn der Hunger die Einkäufer überfällt, müssen die Köche auf den Ansturm gut vorbereitet sein.
Das sind sie auch. Eine ungewöhnliche Vielfalt findet man zum Beispiel in »Kashis heißer Küche« in den Marktlauben. Dort gibt es feine Salate, Nudeln und Sandwiches mit orientalischem und griechischem Touch. Gleich nebenan steigt der Kundschaft der Duft von Frikadellen, Leberkäse und Fleischwurst in die Nase. Die ungewöhnliche Kombination ist eine Reminiszenz an die Stammkundschaft der Metzgerei Huber, die dort bis 2016 hungrige Wochenmarktbesucher versorgt hat.
Einkaufen, schwätzen, essen
Weniger traditionell, dafür voll im Trend sind die Burger und Barbecue-Gerichte bei »M&K’s«, oder auch die Brote, die man direkt aus dem Ofen der »Cantina« essen kann. Die hausgemachten Ciabatta bringen einen Hauch Italien nach Mittelhessen. Beliebt sind auch die süßen Variationen, die es dort direkt neben der stets umlagerten Caféinsel gibt. Apropos süß: Auch diese Gelüste können auf dem Wochenmarkt gestillt werden, zum Beispiel bei »Beans on Bike« oder »Ermioni«, wo Waffeln bzw. Crêpes frisch zubereitet werden.
Der Besuch des Wochenmarkts ist samstags für viele Gießener Kult. Das Einkaufen wird traditionell mit bummeln, schwätzen und essen eingerahmt. Mittwochs präsentiert sich ein etwas anderes Bild, es sind weniger Beschicker vor Ort, alles ist etwas übersichtlicher und ruhiger. Wer in der Innenstadt arbeitet, nutzt gern Frühstücks- oder Mittagspause, um auf den Markt zu gehen.
Der Berliner, der mit seiner Feldküche zweimal in der Woche aus Limburg anreist, hatte insofern einen schweren Start, als Eintöpfe bei 30 Grad im Schatten nicht gerade der Renner sind. »Man muss die Leute erst mal anfüttern«, sagt er jedoch zuversichtlich. Im Herbst, so seine Hoffnung, werden seine Suppen heiß begehrt sein. Auch wenn der Name etwas anderes sagt: In einer Gulaschkanone könnten problemlos neben »fleischigen« auch vegetarische Süppchen köcheln. Doch davon hält der Berliner »gar nüscht«. Das passe nicht in sein Konzept. Spricht’s und rührt in seinem Nierengulasch.