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Krisenintervention wird schwieriger

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Von: Sebastian Schmidt

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Wenn das Jugendamt der Stadt Gießen Kinder in Obhut nimmt, haben die meist eine Krisensituation durchlebt und brauchen professionelle Betreuung. Eine Unterbringung in bestehenden Wohngruppen funktioniert oft nicht. SYMBOL © Red

Gießen braucht mehr Notunterkünfte für Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen, die Suche nach geeigneten Plätzen wird für das Jugendamt immer schwieriger. Annette Berndt, die Leiterin des Sozialen Dienstes der Behörde, hält den Status quo bisweilen für »grenzwertig«.

Obwohl die Zahl der Inobhutnahmen durch das Jugendamt der Stadt Gießen in den vergangenen Jahren bis 2021 sogar leicht rückläufig gewesen ist, gestaltet sich die Suche nach freien Plätzen immer schwieriger. Das hat Annette Berndt, die Leiterin des Sozialen Diensts des Jugendamts, vergangenen Donnerstag vor dem Jugendhilfeausschuss der Stadt erklärt. Berndt wünscht sich, dass mehr wohnortnahe Notunterkünfte geschaffen werden.

»Inobhutnahmen sind immer eine Krisenintervention«, sagte Berndt. Die genauen Hintergründe für die Maßnahme können dabei vielfältig sein. 2021 habe es zum Beispiel 57 Inobhutnahmeverfahren in Gießen gegeben. Davon 18, weil Anzeichen für Misshandlungen vorlagen; 16, weil die Eltern überfordert gewesen waren; und jeweils acht, weil es Anzeichen für sexuelle Gewalt oder Vernachlässigung gegeben habe.

Misshandlungen und sexuelle Gewalt

Von diesen 57 Fällen konnte das Jugendamt aber nur 17 im Stadtgebiet unterbringen, 22 noch im Landkreis, aber für weitere 17 musste über den Landkreis hinaus eine Notunterkunft gesucht werden. »Und das nicht nur hessenweit, sondern auch in anderen Bundesländer«, sagte Berndt und fügte an: »In einem Fall zum Beispiel musste ein Kind schließlich bis nach Erfurt gebracht werden.«

Das sei aus gleich mehreren Gründen problematisch. Zum einen sei es schwer zu organisieren, dass die Kinder weiter zur Schule gehen können, wenn sie nicht in der Nähe ihres Wohnortes unterkommen. »Oft findet dann gar kein Schulbesuch mehr statt«, sagte Berndt. Zum anderen seien für die Rückkehr der Kinder in das Elternhaus oft viele Gespräche und Treffen notwendig. Wieder eine Organisationsaufgabe für das Jugendamt, die schwieriger wird, je weiter weg sich das Kind von seinem Wohnort befindet.

Warum sich die Suche nach einer Notunterkunft als schwierig gestaltet, liegt auch an den besonderen Bedürfnisse für die Unterbringung der Kinder in den Fällen einer Inobhutnahme. Die Betroffenen kommen meist direkt aus einer akuten Krisensituation heraus, mit »vielfältigen, schweren Entwicklungsverläufen«, sagte Berndt. Das Jugendamt könne diese Kinder nicht einfach in bestehenden Wohngruppen unterbringen. Das stelle für diese Gemeinschaften eine hohe Belastung dar und »das können die Wohngruppen nicht verkraften«.

Für die in Obhut genommen Kinder benötige die Stadt deswegen professionelle, wohnortnahe Strukturen, sagte Berndt. Der momentane Status quo sei »manchmal richtig grenzwertig«. So habe es zum Beispiel ein Kind gegeben, für welches das Jugendamt nur vorübergehende Notunterkünfte finden konnte. Es musste schließlich zweimal umziehen. Was sich erst einmal nicht so schlimm anhört, ist für die Kinder, die gerade einer familiären Krise entflohen sind, aber ein Problem, weil es keine sichere Situation für sie bietet.

Berndt erklärte dem Ausschuss auch die auffällige Altersverteilung der Inobhutnahme-Fälle. So gebe es eine hohe Zahl von Kindern, die zwischen null und einem Jahr alt sind, und dann erst wieder eine steigende Zahl, wenn die Kinder älter als 16 sind. Das liege daran, dass sich Kinder ab diesem Alter vermehrt selbst beim Jugendamt melden und von sich aus Hilfe suchen.

Die Verweildauer in der Inobhutnahme hat in der Vergangenheit dabei zum Großteil zwischen einem Tag und drei Monaten gelegen. »75 Prozent der Inobhutnahmen konnten in den ersten drei Monaten beendet werden«, sagte Berndt. Es habe 2021 aber auch zwei Fälle gegeben, in denen die Inobhutnahme zwischen sechs Monaten und einem Jahr angedauert habe.

Warum die Anzahl der Fälle von 87 im Jahr 2018 kontinuierlich auf 57 im Jahr 2021 gesunken ist, konnte die Mitarbeiterin des Jugendamtes nicht erklären und sagte: »Gründe dafür kann man erst einmal nicht erkennen.« Für das Jahr 2022 liegen indes noch keine endgültigen Zahlen vor, aber Berndt erwartet »ungefähr 64 Fälle«.

Berndt erklärte schließlich auch, was mit den Kindern nach der Inobhutnahme passiert: So sind 2021 die meisten (23) wieder zu den Sorgeberechtigten zurückgekehrt, viele (18) mussten aber auch für längere Zeit außerhalb ihres Elternhauses untergebracht werden.

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