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Kriegsverletzungen an der Psyche

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Von: Christoph Hoffmann

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Manfred Becker und Mona Stauzebach vor den Zelten, in denen die Geflüchteten geimpft werden. © Christoph Hoffmann

Jeden Tag kommen rund 600 Ukrainer in Gießens Erstaufnahmeeinrichtung an. In der Rödgener Straße erhalten sie nicht nur ein Impfangebot, sondern auch medizinische Versorgung. Oft können Mona Stauzebach und ihre Kollegen den Menschen aber nicht auf der Stelle helfen. Denn viele Leiden sind seelischer Natur.

Auf dem Hof der hessischen Erstaufnahmeeinrichtung sitzt ein Kind auf einer Reisetasche. Es wartet offenbar auf seine Mutter, die in einem der weißen Zelte verschwunden ist. Ein anderes Mädchen überbrückt die Wartezeit, in dem es einem Luftballon hinterherjagt. Beide Kinder stammen aus der Ukraine, beide sind nach der Flucht aus ihrer bombardierten Heimat in Gießen gelandet. »In den Zelten erhalten die Menschen eine medizinische Untersuchung und ein Impfangebot«, sagt Dr. Mona Stauzebach, die in der Einrichtung in der Rödgener Straße als Ärztin arbeitet. »Die meisten sind körperlich in einem guten Zustand. Aber psychisch nicht«, betont die Medizinerin. »Vor allem die Kinder sind traumatisiert.«

Nach der Flüchtlingswelle 2015 steht die Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen (EAEH) erneut vor einer großen Herausforderung. »Täglich kommen teilweise über 600 Ukrainer bei uns an«, sagt Abteilungsdirektor Manfred Becker. Insgesamt seien es schon über 10 000 Menschen gewesen, die in Gießen registriert, erstversorgt und medizinisch untersucht worden sind, bevor sie auf andere HEAE-Standorte oder die Kommunen verteilt wurden.

Über 80 Prozent der Geflüchteten seien Frauen und Kinder, sagt Becker. Unter den Männern seien viele Alte und aus Drittstaaten stammende. »In der Regel bleiben die Menschen nur 72 Stunden bei uns, bevor sie verlegt werden. Aber das klappt nicht immer.« Das liege zum Beispiel daran, dass die Angaben der Menschen aus den Drittstaaten überprüft werden müssten. Das könnten beispielsweise Afghanen sein, die legal in der Ukraine gelebt haben. »Wir haben aber auch schon die ersten Trittbrettfahrer, die von dem Sonderstatus der Ukrainer profitieren wollen«, sagt Becker.

Viele Frauen und Kinder, die seit Wochen in die EAEH strömen, haben Schlimmes erlebt. Ihre Häuser wurden bombardiert, ihre Ehemänner und Väter wurden getötet. Solche Traumata können in der EAEH nicht behandelt werden, schon gar nicht innerhalb von 72 Stunden, sagt Stauzebach. »In schweren Fällen und bei Suizidgefahr überweisen wir die Menschen zum Beispiel an die Vitos-Klinik.« Während für Geflüchtete aus allen anderen Ländern fünf Ärzte zur Verfügung stünden, kümmerten sich um die Ukrainer in zwei Schichten jeweils fünf Mediziner, bald sollen es jeweils acht sein, sagt Stauzebach.

Quarantäne sorgt für Probleme

Die große Trauer und die vielen Tränen gehen auch an der Medizinerin nicht spurlos vorüber. »Das kann man nicht einfach abschütteln und nimmt es auch mit nach Hause.« Stauzebach weiß, wie es den Geflüchteten geht. Sie stammt aus dem Iran. »Wenn man Krieg einmal erlebt hat, ist er immer da. Vielleicht ist das Mitgefühl daher ein bisschen größer.«

Das Zurechtkommen in der neuen Umgebung ist für die Ukrainer umso schwerer, da in Deutschland wegen der Pandemie strengere Schutzmaßnahmen gelten als in ihrem Heimatland. »In der Ukraine gibt es keine Quarantäne«, betont Becker und fügt an, dass dies in der EAEH oftmals zu großen Problemen führe. »Für jemanden, der aus einem Kriegsgebiet kommt, ist es sehr schwer, für zehn Tage in Quarantäne gehen zu müssen. Das ist psychisch eine große Belastung.«

In den vergangenen Wochen sind 250 Ukrainer in der EAEH positiv auf Corona getestet worden. Zudem würden sich lediglich 20 Prozent der Menschen nach ihrer Ankunft impfen lassen, sagt Stauzebach. Diejenigen, die dies bereits in ihrer Heimat erledigt haben, gelten in der EU dennoch nicht als geimpft, fügt Becker an. »Der Großteil ist mit Sputnik oder dem chinesischen Sinovak geimpft. Diese Stoffe sind in der EU jedoch nicht zugelassen.«

Geimpft wird in den Zelten, die auf dem Hof der Einrichtung stehen. Während Becker und Stauzebach über den Ablauf der medizinischen Versorgung sprechen, verlässt eine Frau das Zelt und geht zu dem davor hockenden Kind. Sie streichelt ihm zärtlich über die Mütze, dann gehen die beiden zusammen in Richtung Ausgang. Davor wartet schon ein Bus, der die Geflüchteten in eine neue Unterkunft bringen wird - und somit hoffentlich in eine bessere Zukunft.

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