1. Gießener Allgemeine
  2. Gießen

»Kostbarer Fetzen« an der Pinwand

Erstellt:

Kommentare

PortraitClausLeggewie_01_4c_1
Prof. Claus Leggewie vor den Originalzeichnungen des hierzulande kaum bekannten US-amerikanischen Architekten Lebbeus Woods. © Red

In Kooperation mit dieser Zeitung fragen Mitarbeiter der Kunsthalle in ihrer Serie »What’s on your wall?«, was Kulturschaffende täglich auf ihren Wänden - zu Hause oder im Büro - begleitet. Heute ist Claus Leggewie an der Reihe. Er ist Professor an der Uni Gießen und leitet mit einem jungen Team das Panel on Planetary Thinking.

Herr Leggewie, was hängt an Ihrer Wand?

In meinem Arbeitszimmer hängen Fotografien von Horst Schäfer und ein Gemälde von Gerhard Fietz aus der Gruppe ZEN 49. Herausstellen möchte ich aber eine kleine Preziose an meiner Pinnwand. Dort hängt seit Jahren ein kleiner Zettel, vier mal vier Zentimeter, grob ausgerissen aus einem Schreibheft, darauf drei Worte untereinander gekritzelt: Görz - Gorizia - Gorica. Den Fetzen halte ich in Ehren wie eine Reliquie, im Andenken an einen Intellektuellen, der mir in den frühen 1970er Jahren den Weg gewiesen hat und bis heute viel bedeutet: André Gorz. Geboren 1923 als Gerhart Hirsch, im antisemitischen Wien unbenannt in Horst, nach dem Krieg in Frankreich umgewandelt in das phonetisch nahe Gorz und übersetzt in Michel Bosquet, für seine Freunde nur Gérard. Namen sind nicht Schall und Rauch, bei diesem Mann markieren sie eine Lebensgeschichte, die Auffächerung einer Person in berufliche und private Existenzen, die Suche nach Ich-Identität in den Anderen. Der dreifache Namenswechsel von Horst zu Gorz folgte einer Stadt im vielsprachigen Dreiländereck Slowenien, Italien und Österreich: Görz / Gorizia / Gorica. Gorz hatte sie auf dem Fernrohr seines Vaters gefunden und mir daran seine Existenzform bei einem Besuch auf einem kleinen Zettel illustriert.

Was verbinden Sie mit diesem Zettel?

Das Exil. Die Namenswechsel dokumentieren eine dramatische Lebensgeschichte. Die Emigration des jungen Wiener »Halbjuden« in die Schweiz rettete ihm das Leben, die Hinwendung zur französischen Kultur richtete seinen geistigen Kompass aus. In Paris machte Michel Bosquet eine beachtliche Karriere als politischer Journalist, zuletzt beim »Nouvel Observateur«, dem Leitmedium der unorthodoxen französischen Linken. Neben der journalistischen Brotarbeit des Michel Bosquet profilierte sich André Gorz als unorthodoxer Sozialphilosoph. Ohne akademischen Hintergrund, mit scharfem Blick auf die Lage der Arbeiterklasse, analysierte er die Zwänge der Konsumgesellschaft und vor allem die ökologischen Probleme eines angeblich unbegrenzbaren Wirtschaftswachstums. Gorz vernetzte sich mit kritischen Wissenschaftlern, Gewerkschaftern und Aktivisten der neuen sozialen Bewegungen in Frankreich, Italien, Deutschland und Lateinamerika. Er suchte nach Wegen zum Umbau eines industriegesellschaftlichen Modells, das seine Ressourcen verzehrt und durch Automatisierung immer mehr Menschen in die Arbeitslosigkeit entlässt. Gorz’ Arbeiten entstanden abseits der Zirkel der schicken Pariser Intelligentsia. 1983 zog er mit seiner schottischen Lebensgefährtin Dorine in das 250-Seelen-Dorf Vosnon am Rande der Champagne. Für seine Frau, der er in den »Briefen an D.« ein Denkmal gesetzt hat, sorgte er bis zum gemeinsamen Freitod 2007, das Landhaus in der »Rue de la Mairie« vermachte das kinderlose Paar der Solidaritätsorganisation »La Cimade«, eine Reverenz an die schwierigen Lebensumstände der beiden Migranten am Beginn ihrer Liebe. Das Haus ist mittlerweile verkauft. Mit dem Erlös finanziert »La Cimade«, der Dorine und Gérard schon zu Lebzeiten reichlich Spenden zukommen ließen, ihr Engagement für Geflüchtete, Migranten und Asylsuchende. Im Dorf erinnert am Spielplatz eine Tafel an die beiden, die den Kindern von Vosnon Rutsche, Schaukel und Bänke schenkten. In Paris ist eine Uferpromenade der Seine nach ihm benannt. Seine Themen - die politische Ökologie, das garantierte Grundeinkommen, der digitale Wissenskommunismus - sind aktueller denn je. Der Zettel an meiner Pinnwand erinnert mich daran, dass man auch in schwierigen Zeiten nicht aufgeben darf.

Herr Leggewie, was hängt außerdem an Ihrer Wand?

An einer Wand hängen drei Originalzeichnungen des hierzulande kaum bekannten Lebbeus Woods. Er war ein herausragender US-amerikanischer Architekt, der an verschiedenen internationalen Hochschulen lehrte und eine große Zahl von Zeichnungen angefertigt hat, aber nur sehr selten etwas gebaut, dafür aber in spannenden Ausstellungen seine Entwürfe gezeigt hat, wie eben die Zeichnungen einer Häuserzeile im zerstörten Sarajewo, das an unserer Wand hängt. Es ging ihm nicht um schöne Häuser oder grüne Stadtviertel, für ihn hatten Kriege und Katastrophen eine Architektur (»Warchitecture«) vorgezeichnet, die man nicht heilen, korrigieren, überbauen, sondern unterstreichen und zum Ausgangspunkt der weiteren Gestaltung machen sollte. Das galt unter anderem für die von serbischen Granaten zerstörte Stadt Sarajewo, den im Kalten Krieg leer geräumten Potsdamer Platz in Berlin, die bei einem Erdbeben eingestürzten Gebäude und Brücken in San Francisco oder auch die Altstadt von La Havanna. »Radical Reconstruction« nannten er und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter diesen Ansatz.

Was verbinden Sie mit diesen Zeichnungen?

Zu Sarajewo habe ich eine besondere Beziehung, da ich mich dort am Ende der Belagerung in einer humanitären Mission aufgehalten und mit Gießener Studierenden die Aktion »Brücken nach Sarajewo« veranstaltet habe. Woods'Arbeiten erinnern mich aber auch an unsere Abende mit ihm und seiner Frau, an die gemeinsamen Bar- und Restaurantbesuche im New York der späten 90er Jahre, die mit dem korpulenten Mann aus dem Mittleren Westen etwas Uramerikanisches bekamen. Vor allem sehe ich ihn noch in seine Notizbücher skribbeln, scheinbar gedankenverloren, doch wach für die Umgebung. Woods stand für eine in Gesellschaft und Geschichte verankerte, politische und partizipative Architektur. Woods starb in jener Oktobernacht, als Hurrikan »Sandy« den Süden Manhattans unter Wasser setzte, das größte Sturmgebiet, das bis dahin jemals über dem Atlantik beobachtet worden war. Zu diesem Vorzeichen der drohenden Klimakatastrophe kommt mir der Refrain eines Kinks-Songs in den Sinn: »This thing is bigger than the both of us. / It’s gonna put us in our place. / We’re gonna see what really matters, / When you see that storm stare us in the face.« (Ray Davies, »Lost and Found«, 1986).

leggewie_011022_4c
leggewie_011022_4c © Red

Auch interessant

Kommentare