Kleinlinderinnen erforschen den Alltag der Vergangenheit
Gießen-Kleinlinden (kw). Seit fünf Jahren treffen sich ältere Kleinlinderinnen allmonatlich zur »Geschichtswerkstatt«. Zu ihrem jüngsten Treffen luden sie Pressevertreterinnen ein.
Ernst blicken sie drein, die Frauen in den feierlichen dunklen Gewändern auf dem rund 100 Jahre alten Foto. Die Betrachterinnen, die im Evangelischen Gemeindehaus in Kleinlinden versammelt sind, wissen ziemlich genau, was ihre Vorfahrinnen machten, wenn sie nicht beim Fotografen stillhielten: Wie lang und kräftezehrend zum Beispiel ein Waschtag war, wie hart die Arbeit in der Zigarrenfabrik, wie aufwendig die Brotherstellung im Backhaus, und dann das »Kartoffelausmachen« ... »Was mussten die schuften!«, schaudert es eine noch nicht 60-Jährige. »Wir haben es gut mit Waschmaschine und Kühlschrank«, stimmt eine andere ein. »Die kühlen Keller waren aber auch schön! Und sie haben völlig ausgereicht«, widerspricht eine Ältere. »Wir haben die Butter immer in einen Eimer mit Wasser gelegt und den im Brunnen heruntergeleiert«, berichtet die nächste. Die »Geschichtswerkstatt Linneser Frauen« gerät in Fahrt.
Seit fünf Jahren versammeln sich jeden Monat rund ein Dutzend Kleinlindenerinnen. Die meisten sind um 1920 geboren, es sind aber auch »junge Dinger« dabei bis hin zu Eri Weller, die 1954 in Japan zur Welt kam. Sie beantworten Fragen wie: Wo waren früher welche Einzelhandelsgeschäfte im Dorf? Welche Lieder sangen Frauen bei der Hausarbeit? Welche Geschichten verbergen sich hinter der ersten Kleinlindenerin mit Führerschein oder der ersten Ärztin des Dorfs? Etliche Ergebnisse sind nachzulesen im Buch »Was könnt’ man schreiben ... Buch und Bibel!«, das 2006 erschien und bereits 600-mal verkauft wurde.
Die Nachmittage seien »richtige Arbeitstreffen«, betont Dagmar Hinterlang, die die Gruppe betreut und ihre Erinnerungen schriftlich festhält, inzwischen oft unterstützt von Conny Claes aus dem Stadtarchiv. Zu meist vorgegebenen Themen erzählten meist alle erst einmal »drauflos«: »Das ist wichtig, denn dadurch kommen Einzelheiten zum Vorschein, an die man sonst vielleicht gar nicht denken würde«. Manchmal werden mitgebrachte Gegenstände begutachtet, das Kinderspiel Ri-Ra-Rutsch oder der »vorschriftsmäßige« Knicks demonstriert. Immer wieder verfallen die »Linneserinnen« in Mundart und sammeln manchmal listenweise Dialekt-Begriffe, die heute gar nicht mehr verwendet werden.
Die »Hausaufgaben« bestünden zum Beispiel darin, Fotos zum Thema zu suchen oder andere Frauen zu befragen - in Ausnahmefällen auch einmal Männer. Bis nach England oder in die USA seien solche Fragen schon gegangen. »Wenn man dann im Dorf unterwegs ist, spürt man, wie das Thema in ganz unterschiedlichen Zusammensetzungen weitergesponnen wird«, berichtet die aus Hamburg stammende Dagmar Hinterlang, die das Ortsblatt »Linneser Backschießer« mit herausgibt und AZ-Lesern als Autorin »hin« ein Begriff ist.
Eigentlich stammte die Idee, den Dorfalltag aus Frauensicht zu erforschen, von der städtischen Frauenbeauftragten Ursula Passarge. Sie fand Unterstützung des Stadtarchivars Dr. Ludwig Brake und seiner Mitarbeiterin Conny Claes. Als die Initiatoren die journalistisch erfahrene Wahl-Kleinlindenerin ansprachen, bekam die Geschichtswerkstatt ihre jetzige Form. »Außergewöhnlich und einmalig« sei es, dass die Texte »aus der Bevölkerung« kommen und nicht von einem Außenstehenden aufgeschrieben werden, sagte Passarge nun in einem »großen Dankeschön an die ganze Runde«. »Wunderbar« sei die »lebendige« Geschichtsschreibung. Sie hoffe, dass die Stadt auch das nächste Buchvorhaben mitfinanzieren kann.
Das Material dafür sei bereits gesammelt, sagt Dagmar Hinterlang: Unter anderem gehe es um Körperhygiene, den Einmarsch der Amerikaner 1945, um Möbel, Kleidung oder Urlaub. Nicht nur wenn es um Menstruation geht, sei der Blickwinkel der Frauen etwas Besonderes, betonen die Beteiligten. Und Dagmar Hinterlang erzählt, dass vor fünf Jahren viele der Beteiligten meinten, »in ihrem Leben gebe es eigentlich gar ›nichts Besonderes‹ oder zumindest nichts von zeitgeschichtlicher Bedeutung. Sie hätten Haus und Familie versorgt und ›sonst nichts‹. Inzwischen hat sich diese Sicht grundsätzlich verändert.« Die »französische« Gemüsesuppe musste man in der Zeit des Ersten Weltkriegs plötzlich anders nennen. Eine Frau erinnert sich daran, dass die Kirmes im September 1939 wegen des nächsten Kriegsbeginns ausfiel - vergeblich hatte sie sich dafür ihre erste Wasserwelle beim Friseur legen lassen. »Man hat das Bedeutende im scheinbar Unbedeutenden erkannt«, fasst Dagmar Hinterlang zusammen.
Möglicherweise könne das zweite Buch Ostern 2010 erscheinen, meint sie. Doch damit sind die Ideen noch lange nicht erschöpft. Neue Fragen sind längst in Arbeit, zum Beispiel: Welche Geräusche prägten das Dorfleben, die man heute gar nicht mehr kennt? Wie haben sich Besucher eines Hauses eigentlich früher bemerkbar gemacht, bevor es elektrische Klingeln gab? Mit welchen Gerüchen wurden sie im Hausflur konfrontiert? »Da gab’s doch die Geschichte von dem jungen Mann«, fällt einer ein, »der das erste Mal seine Verlobte aus der Stadt nach Hause brachte und vorher seiner Mutter sagte: Bring bloß das Saufass aus der Küche, das stinkt so!« Die Geschichtswerkstatt kommt in Fahrt.