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Gießener Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge: „Nicht nur moralisch diskutieren, sondern ehrlich“

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Von: Kays Al-Khanak

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In der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen leben aktuell 2700 Menschen auf engem Raum zusammen.
In der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen leben aktuell 2700 Menschen auf engem Raum zusammen. © Oliver Schepp

Klaus-Dieter Grothe benennt Probleme in der Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Gießen nüchtern und betrachtet das Thema Migration auf humane Weise.

Gießen - Ob sich Klaus-Dieter Grothe manchmal wie der einsame Rufer im Wald vorkommt? Seit vielen Jahren wird der Grünen-Politiker und langjährige Engagierte in der Flüchtlingshilfe nicht müde, Probleme im Asylbereich zu benennen. Zuletzt, als es um die von einem kleinen Teil der Bewohner der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen (EAEH) an der Rödgener Straße verursachten Polizeieinsätze vor Ort ging. Angst vor Applaus von der falschen Seite hat der 66 Jahre alte Gießener nicht. »Mir geht es um die Menschen, die Hilfe brauchen, weil sie in ihrer Heimat um Leib und Leben fürchten müssen.« Für die will Grothe eine gesellschaftliche und politische Akzeptanz erreichen.

Grothes Wort in Flüchtlingsfragen hat auch deshalb Gewicht, weil er weiß, wovon er redet. Zwar sei er »völlig migrantenfrei« in einem Dorf im Lahn-Dill-Kreis aufgewachsen, erzählt er. »Mir waren Katholiken genauso fremd wie Muslime.« Aber in den 90er Jahren begann er, sich ehrenamtlich für Geflüchtete zu engagieren. So baute er im Lahn-Dill-Kreis ein Telefonnetzwerk auf, an das sich Geflüchtete wenden konnten, wenn sie von Neonazis bedroht wurden. Ab Mitte der 90er Jahre kamen Geflüchtete auch in die Praxis des Kinder- und Jugendpsychiaters. »Dort habe ich mich mit ihren Problemen noch intensiver auseinandergesetzt«, sagt Grothe, der seit 1982 bei den Grünen und seit 30 Jahren im Vorstand der Flüchtlingshilfe Mittelhessen aktiv ist.

Dieser Hintergrund erklärt, warum Grothe manche Probleme nüchtern sieht und benennt - und gleichzeitig das Thema Migration human betrachtet. Erst im April war er ein gefragter Gesprächspartner, um die Situation rund um die EAEH einzuordnen. Fünf Polizeibeamte hatten über eine Überlastung geklagt: Im Schnitt dreimal am Tag seien sie dort in der Einrichtung. Polizeipräsident Bernd Paul bestätigte, dass sich die Zahl der Einsätze von 330 in 2018 auf 905 in 2020 erhöht habe. Grothe sagt, bereits im Februar habe er auf diese Probleme aufmerksam gemacht. Die innenpolitische Sprecherin der Grünen, Eva Goldbach, habe daraufhin versucht, mit dem Hessischen Innenministerium wegen der zunehmenden Polizeieinsätze ins Gespräch zu kommen. »Sie hat keinen Termin bekommen«, sagt Grothe und schüttelt mit dem Kopf. »Die wollten das nicht hören.«

Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen: Regelmäßige Polizeieinsätze wegen Körperverletzungen und Drogendelikten

Zuletzt haben in der EAEH 2700 Menschen gelebt; zwischen 100 und 200 beziffert Grothe die Zahl derer, die dort immer wieder negativ auffielen. Die Polizei muss regelmäßig wegen Körperverletzungen oder Diebstahl eingreifen; auch Drogendelikte spielen eine Rolle. Die Taten, unter denen auch der große Teil der übrigen Bewohnerinnen und Bewohner leidet, werden meist von einer Gruppe verübt, die ursprünglich aus dem Maghreb stammt. Grothe sagt: »Es geht um entwurzelte, kriminelle Jugendliche, die polizeifest sind und seit Jahren durch Europa ziehen.« Jungs, die mit fünf oder sechs Jahren auf der Straße gelebt haben und kein bürgerliches Leben kennen. Die in einer Gruppe Gleichaltriger auch unter dem Einfluss krimineller Strukturen stehen. Und die wissen, dass sie keine Bleibeperspektive in Deutschland haben, aber seit der Einführung des Geordnete-Rückkehr-Gesetzes in 2019 zum Teil 18 Monate in der EAEH verbringen. Derselbe Personenkreis sei auch für die Übergriffe in der Silvesternacht 2016 in Köln verantwortlich gewesen, sagt Grothe. Statt diese Gruppe zu benennen, sei in Deutschland aber über den angeblichen Machismus arabischer Männer diskutiert worden. Grothe ärgert sich bis heute darüber.

Erstaufnahmeeinrichtung in Gießen: Recht auf Asyl und Fachkräfte

Der 66 Jahre alte Gießener betont, hierzulande sei es das größte Problem, eine rationale Debatte über das Thema zu führen. »Bei der Diskussion spielt das Herz schneller eine Rolle als das Hirn«, sagt Grothe. Auf der einen Seite gebe es die, die grundsätzlich offene Grenzen für alle forderten. Auf der anderen Seite stünden diejenigen, für die Geflüchtete nur aus rein wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland kommen wollten und sie grundsätzlich ablehnen. Grothe betont, das Grundrecht auf Asyl sei essenziell: Wessen Leib und Leben bedroht sei, müsse aufgenommen werden. Auch brauche es die gezielte Einwanderung von Fachkräften. Dazu gehöre aber auch, dass es immer Menschen gibt, die kein Recht auf einen längeren Aufenthalt haben.

Sorgt sich er nicht, dass er mit der Nennung von Nationalitäten Ressentiments schüren könnte? Grothe verneint. Es gehe ihm nicht darum, beispielsweise auf alle Menschen aus Algerien mit dem Finger zu zeigen. »Aber es ist doch klar, dass ein Querschnitt der Bevölkerung eines anderen Landes zu uns kommt.« Darunter seien nun mal neben den vielen Geflüchteten, die hier ihr kleines, privates Glück suchten, auch die Gruppe polizeierfahrener junger Männer, die krumme Dinger drehen wollen. »Wir sollten nicht immer nur moralisch diskutieren«, sagt Grothe, »sondern ehrlich.« (Kays Al-Khanak)

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