Kind einer schwierigen Zeit

Gießen (pm). Als Spurensucher und Manuskriptefinder hat sich der Gießener Germanist Prof. Carsten Gansel international einen Namen gemacht. Bei Recherchen in russischen Militärarchiven war er unter anderem auch auf die Kriegsgefangenenakte von Otfried Preußler gestoßen. Anstoß für eine spannende biografische Spurensuche - diesmal auch im Privatarchiv Preußlers.
Das Ergebnis ist die Neuerscheinung »Kind einer schwierigen Zeit: Otfried Preußlers frühe Jahre« (ISBN 978-3-86971-250-5).
Otfried Preußlers »Krabat« ist eines der meistgelesenen deutschen Jugendbücher - eine Geschichte über Macht, ihre Verlockungen und ihren Missbrauch. Dass der Autor darin eigene Erfahrungen vom Jugendlichen im nationalsozialistisch regierten Sudetenland, aus der Zeit des Krieges und der russischen Kriegsgefangenschaft verarbeitet, in der er literarische Texte unter extremen Bedingungen schreibt, wissen jedoch die wenigsten. Die frühen Jahre des großen Erzählers, der unmittelbar nach dem Abitur 1942 zur Wehrmacht eingezogen wurde, lagen weitgehend im Dunkeln. Gansel hat verschiedene dieser wichtigen Texte gefunden, wissenschaftlich eingeordnet und interpretiert.
Unveröffentlichte Texte ausgewertet
Ein eigenes Romanprojekt zur Verarbeitung der traumatischen Jahre hatte Preußler begonnen, aber nicht beendet. In der Autobiografie »Verlorene Jahre?«, die bislang nicht bekannt war, findet er Wege, um von Krieg und Gefangenschaft zu erzählen. Fast parabelhaft, so heißt es in der Verlagsmitteilung, habe er seine Erfahrungen und Erkenntnisse in Kunst verwandelt. Preußlers Hauptwerk »Krabat« ist, so die Selbstaussage des Autors, »meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation und die aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken«.
Carsten Gansel entdeckte im Rahmen seiner Recherchen bislang unbekannte Dokumente, Texte und Fotos aus Kriegsgefangenenlagern und erhielt zudem die Gelegenheit, im Privatarchiv Otfried Preußlers weitere Funde zu sichten und unveröffentlichte Texte Preußlers auszuwerten. Nun macht er Otfried Preußlers Erlebnisse in seinem neuen Buch »Kind einer schwierigen Zeit: Otfried Preußlers frühe Jahre« erstmals zusammenhängend einem größeren Publikum zugänglich. Der Gießener Literaturwissenschaftler zeigt die prägende Rolle von Otfried Preußlers Vater Josef Syrowatka (der seinen Namen nach ausgeprägter Ahnenforschung zu Preußler änderte) und stellt dar, wie wichtig die Geschichten von Preußlers Großmutter Dora für das spätere Schreiben ihres Enkels wurden. Gansel geht zudem ein auf Otfried Preußlers 1942 erschienene erste Gedichte sowie dessen Jugendbuch »Erntelager Geyer«, dem von einigen Kritikern zu Unrecht ideologische Verklärung vorgeworfen wurde, wie der Literaturexperte nachweist.
Carsten Gansel, Jahrgang 1955, ist seit 1995 Professor für Neuere deutsche Literatur- und Germanistische Mediendidaktik an der Justus-Liebig-Universität und beweist immer wieder einen besonderen literarischen Spürsinn. 2016 hat der Gießener Literaturwissenschaftler mit dem von ihm herausgegebenen Band »Durchbruch bei Stalingrad« national und international für Furore gesorgt. Es war ihm gelungen, die 1949 vom russischen Geheimdienst konfiszierte Urfassung des großen Antikriegsromans von Heinrich Gerlach in russischen Archiven wiederzufinden. Ein Jahr später gab er Heinrich Gerlachs »Odyssee in Rot« heraus. Im Sommer 2016 erschien die Originalfassung des Weltbestsellers »Kleiner Mann - was nun?« von Hans Fallada mit einem ausführlichen Nachwort von Carsten Gansel. An der Entdeckung des Originalmanuskripts hatte der Gießener Literaturwissenschaftler maßgeblichen Anteil, gemeinsam mit Mitarbeitern am Institut für Germanistik der Universität Gießen hatte er die handschriftliche Urfassung des Weltbestsellers entziffert. Schließlich spürte Gansel den verschollenen Gesellschaftsroman »Wir selbst« von Gerhard Sawatzky auf und machte das Epos im Frühjahr 2020 erstmals der breiten Öffentlichkeit zugänglich.