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»Keine andere Wahl, als stark zu sein«

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Von: Kays Al-Khanak

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Ein passender Ort für ein Gespräch über Kunst und Freiheit: Sahar Ajdamsani (Mitte), Hessens Kulturministerin Angela Dorn und Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher in der Stadtbibliothek Gießen. © Oliver Schepp

In ihrer Heimat kann die iranische Künstlerin Sahar Ajdamsani nicht mehr frei leben und arbeiten. Dies ist der 26 Jahre alten Frau nun in Gießen möglich - mit Hilfe des Stipendiats »Hafen der Zuflucht Hessen«, das das Land gemeinsam mit dem Verein Gefangenes Wort vergibt.

In ihren Texten und in ihrer Musik geht es um Frieden, Liebe, Freiheit und Gleichberechtigung. Eigentlich Dinge, die sich jeder Mensch wünscht - das Regime im Iran für seine Bürger aber wohl nicht. Denn nachdem Sahar Ajdamsani das Lied »Quarantine World« über die Kraft der Hilfe, Toleranz und Empathie in Zeiten der Pandemie veröffentlicht hatte, folgten eine Vorladung sowie Schikanen durch den iranischen Geheimdienst. »Wenn sie dich haben, weißt du nicht, was sie mit dir machen«, sagt die 26 Jahre alte Frau. Deshalb ergriff sie die Flucht, die im Juni 2022 in Deutschland endete. Nun kann sie ohne Angst vor Verfolgung in Gießen leben - auch mit Hilfe des Stipendiats »Hafen der Zuflucht Hessen«, das das Land gemeinsam mit dem heimischen Verein Gefangenes Wort vergibt.

Seit September 2022 gehen Iranerinnen und Iraner gegen das Mullah-Regime auf die Straße. Die Proteste ausgelöst hatte der Tod von Mahsa Amini. Die sogenannte Sittenpolizei hatte die 22 Jahre alte Frau festgenommen, weil sie gegen die Kleidungsvorschriften verstoßen haben soll. Am 16. September starb sie in Polizeigewahrsam. Seitdem wurden bei den Protesten Hunderte Menschen getötet und Unzählige inhaftiert. Ajdamsani glaubt, dass auch ihr dieses Schicksal gedroht hätte. »Sie haben mein Leben gerettet«, sagt sie am Freitag im Gespräch mit Hessens Kunst- und Kulturministerin Angela Dorn, Gießens Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher und Vertreterinnen und Vertretern des Vereins Gefangenes Wort in der Stadtbibliothek. »Dafür Danke zu sagen, wäre nicht genug.«

Menschen wie Ajdamsani gibt es überall auf der Welt. Das Land Hessen hat gemeinsam mit dem Gießener Verein das Stipendium ins Leben gerufen, um Menschen zu schützen, die wegen ihrer literarischen, journalistischen, verlegerischen oder künstlerischen Arbeit unterdrückt werden. Als erste Künstlerin wurde im vergangenen Jahr die ukrainische Lyrikerin und Übersetzerin Victoria Feshchuk ins Programm aufgenommen. Sie lebt aktuell in Kassel.

Ajdamsani hat Archäologie studiert, aber ihre Liebe gehört dem Schreiben und der Musik. Mit acht Jahren, erzählt sie, habe sie damit angefangen. Doch viele ihrer Gedichte und Lieder wurden zensiert. Das Regime habe für ihre Auftritte in Teheran das Publikum auf Frauen beschränkt, teilt das Kultusministerium mit. Es sei verboten gewesen, Werbung dafür zu machen. Außerdem seien nur sehr kleine Veranstaltungsorte erlaubt gewesen, um unerwünschte Aufmerksamkeit zu vermeiden. »Die Regeln in Iran richten sich gegen Frauen, gegen alle Menschen«, sagt Ajdamsani, »dabei ist die iranische Gesellschaft eine offene«. Nach der Veröffentlichung ihres Liedes »Quarantine World« im Jahr 2021 sei sie vom Geheimdienst bedrängt worden. »Bei jeder Polizeisirene bin ich aufgeschreckt.« Daraufhin habe sie einen Koffer gepackt und die Stadt verlassen. Die SIM-Karte ihres Smartphones habe sie deaktiviert, die Sozialen Medien gemieden. Nach Wochen der Ungewissheit sei ihr die Flucht ins nordirakische Erbil gelungen. Als Ministerin Dorn ihr sagt, sie bewundere ihre Stärke, sagt Ajdamsani: »Ich hatte keine andere Wahl, als stark zu sein.«

Madelyn Ritter ist Vorsitzende von Gefangenes Wort. Sie erzählt, dass der kleine Gießener Verein 2008 aus einer studentischen Initiative entstanden sei. Die Mitglieder hätten immer davon geträumt, ein solches Stipendiat zu vergeben, um verfolgten Künstlern und Journalisten zu helfen. »Aber es fehlte immer das Geld.« Der Verein hatte mit Hilfe einer Menschenrechtsorganisation recherchiert, wer für ein Stipendium infrage kommt. »Es war eine schwere Entscheidung, andere potenzielle Stipendiaten nicht aufzunehmen«, sagt Ritter. Der Verein unterstützt Ajdamsani außerdem in vielen Lebenslagen, auch bei der Organisation von Veranstaltungen.

Gießen als Zufluchtsort

Oberbürgermeister Becher sagt: »Die Stadt Gießen blickt mit Stolz auf ihre seit Jahrzehnten andauernde Tradition, Menschen, die aus verschiedenen Heimatländern fliehen müssen, einen sicheren Zufluchtsort zu bieten.« Die heimische Landtagsabgeordnete der Grünen, Katrin Schleenbecker, betont, dass auch die deutsche Gesellschaft von Künstlern wie Ajdamsani profitiere. Weil sie auch uns neue Perspektiven eröffne. Dies sieht auch Kulturministerin Dorn so. »Manchmal vergessen wir in Deutschland, wie gut wir es haben, weil es bei uns Demokratie und Meinungsfreiheit gibt«, sagt sie. Deutschland sei verantwortlich für zwei Weltkriege. »Deshalb ist Demokratie ein Geschenk für uns, für das wir uns jeden Tag einsetzen sollten.« Indem man zum Beispiel Menschen Gehör verschafft, deren Stimme eine Regierung am liebsten verstummen lassen will. Stimmen wie die der Iranerin Sahar Ajdamsani.

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