Kein Schlussstrich möglich

Seit Jahrzehnten klärt der heute 90 Jahre alte Ivar Buterfas-Frankenthal über die Gräuel des Nationalsozialismus auf. Doch von seinen über 1500 Auftritten fand bislang keiner in einer Moschee statt - bis Donnerstagabend. Im voll besetzten muslimischen DITIB-Gotteshaus sprach er über das Überleben in der Nazi-Zeit und appellierte, Rechtsradikale in die Schranken zu weisen.
Ivar Buterfas-Frankenthal greift nach den Händen seiner Frau Dagmar. Es wirkt, als drücke er sie ganz fest. Die Augen glasig, er schüttelt immer wieder den Kopf und sagt. »Unglaublich. Unglaublich.« Der 90 Jahre alte Mann reist seit drei Jahrzehnten als einer der mittlerweile letzten noch lebenden Zeitzeugen und Holocaustüberlebenden »von Pontius nach Pilatus«, um über die Gräuel der Nationalsozialisten aufzuklären. Es ist seine Lebensaufgabe geworden. 1572 Auftritte hat er in dieser Rolle bereits absolviert, ohne Honorar zu nehmen. Aber in einer Moschee war er noch nie - bis Donnerstag. Und das berührt Buterfas-Frankenthal sichtlich. Im Rahmen des Projekts gegen Antisemitismus und Radikalisierung sprach er auf Einladung der drei muslimischen Gemeinden Gießens in der DITIB-Moschee an der Marburger Straße vor 150 Zuhörern. Unterstützt wurde die Veranstaltung von der Stadt, der christlich-islamischen Gesellschaft und der Landeszentrale für politische Bildung.
Dass Buterfas-Frankenthal in der Moschee auftreten konnte, hat mit einer E-Mail zu tun. Dr. Halit Aydin, ein Mitglied der DITIB-Gemeinde, las im »Spiegel« einen Bericht über Buterfas-Frankenthal und kontaktierte ihn. Eine Antwort habe er eigentlich gar nicht erwartet, sagte Aydin kürzlich an anderer Stelle. Warum eigentlich nicht? Seine Sicht aufs Leben erklärt Buterfas-Frankenthal mit einer Anekdote: Ein Rabbi hatte den Sohn eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter gefragt, ob er sich christlich oder jüdisch fühle? Er antwortete: »Ich fühle mich menschlich.«
Dieser Einsatz für Toleranz und gegen das Vergessen ist ein Leitmotiv des 1933 geborenen Mannes. Seine Eltern, erzählt er, hätten die Machtergreifung Hitlers für eine kurze Episode gehalten. »Sie dachten, der Spuk mit dem Schreihals wäre schnell vorbei.« Der Spuk dauerte zwölf Jahre, an dessen Ende waren Millionen Menschen gestorben - darunter sechs Millionen Juden, die von den Nazis systematisch ermordet wurden.
Als Kind, erzählt Buterfas-Frankenthal, habe Religion für ihn keine Rolle gespielt. Umso schockierender sei es gewesen, als er an seinem ersten Schultag vor den versammelten Kindern vom Direktor von der Schule verwiesen worden sei. Mitglieder der Hitlerjugend und des Bunds deutscher Mädchen hätten ihn verfolgt, misshandelt und wollten ihn anzünden. »Sie riefen: ›Jetzt werden wir die Judensau rösten‹«, erzählt er. Passanten hätten ihn jedoch gerettet.
Sein Vater kam 1933 ins KZ Esterwegen, dann bis 1945 ins KZ Sachsenhausen. Er überlebte. Zusammen mit seiner Mutter und seinen Geschwistern musste Buterfas-Frankenthal in sogenannten Judenhäusern leben, »mit Schimmel statt Tapeten«. 1942 wurde der Familie die deutsche Staatsangehörigkeit enzogen. Sie flüchtete nach Polen vor einer Deportation, kehrte aber 1943 nach Hamburg zurück. Bis heute ist er seiner Mutter dankbar. »Sie hat uns acht Kinder alleine beschützt und hat ein Denkmal in meinem Herzen.«
Fremd in der eigenen Heimat
In Hamburg versteckte sich die Familie in zerbombten Kellern. Buterfas-Frankenthal zog nachts mit seinem Bruder durch die »Bonzenviertel«, um in den zerstörten Häusern der Nazis nach Konserven oder anderem Brauchbaren zu suchen. »Manche nennen das Plündern, wir Überleben.«
Buterfas-Frankenthal nutzt den Besuch in der Moschee, um Brücken zu den jungen Menschen mit Einwanderungsgeschichten zu bauen. Wohlwissend, dass manche von ihnen nicht immer gute Erfahrungen mit der Polizei gemacht haben, bricht er eine Lanze für die Beamten. »Sie setzen ihr Leben für euch ein und schützen unsere Demokratie vor Ewiggestrigen und Brunnenvergiftern.« In der NS-Zeit sei dies anders gewesen. Als Beispiel nennt er das Massaker von Babij Jar, eine Schlucht, in der 1941 über 33 000 Juden aus Kiew ermordet wurden. Unter den Mördern: Hunderte Polizisten des Bremer Polizeibataillons 303.
Buterfas-Frankenthal erzählt, wie er erst 1964 die deutsche Staatsangehörigkeit zurückbekam. Das Gefühl, von anderen zu Fremden gemacht zu werden, obwohl sie hier geboren sind, kennen viele der Zuhörer zu gut. Zudem betont er: »Deutsche verdanken auch den türkischen Gastarbeitern, euren Eltern oder Großeltern, ihren Wohlstand.«
Dies jedoch würden »die Nazis« von heute nicht verstehen. Buterfas-Frankenthal erwähnt den rassistisch motivierten Brandanschlag von Mölln, bei dem drei Menschen starben und neun schwer verletzt wurden. Er spricht über den NSU, der mordend durch Deutschland zog. Die Älteren fordert Buterfas-Frankenthal auf, mit den Jungen über die Vergangenheit zu reden. Zu den jüngeren Zuhörern sagt er: »Morgen seid ihr die Erwachsenen, die mitbestimmen, wenn ihr wählen geht. Dann aber hoffentlich die Richtigen. Und nicht die Idioten im Bundestag, die unter den dunklen Teil unserer Geschichte einen Schlussstrich ziehen wollen.«