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Preissteigerungen und Energiekrise: Wenn das Geld für Strom und Brot nicht reicht

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Von: Christine Steines

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Die Sozialarbeiterinnen Brigitte Schütz und Louise Svetaschov aus Gießen berichten von ihrer Arbeit. Sie sagen, die Situation für Menschen mit wenig Geld sei noch nie so dramatisch gewesen wie jetzt.

Gießen - Immer mehr Menschen geraten in existenzielle Not. Die Sozialarbeiterinnen Brigitte Schütz (Caritas) und Louise Svetaschov (SkF) erleben in Gießen täglich dramatische Situationen. Ihre Klienten finden keine bezahlbare Wohnung, sie haben nicht genug zu essen, sie wissen nicht, wie sie ihre Stromrechnung bezahlen sollen. »Wir befürchten, dass dies erst der Anfang ist«, sagt Schütz.

Neulich ist eine Frau mitten im Beratungsgespräch zusammengeklappt. Sie war nicht nur verzweifelt, sondern auch entkräftet, weil sie noch nichts gegessen hatte. »Das ist kein Einzelfall«, sagt Brigitte Schütz. Sie ist gemeinsam mit ihrer Kollegin Angela Linke Ansprechpartnerin in der Allgemeinen Lebens- und Sozialberatung beim Caritasverband. Die Sozialarbeiterinnen haben viele Jahre Erfahrung, doch nie war die Situation so dramatisch wie jetzt.

Aus Anlass der »Armutswochen« schildern die Beraterinnen von SkF und Caritas, dass Menschen mit geringem Einkommen, die bisher einigermaßen über die Runden kamen, nun in die Armut abgleiten. »Es muss ganz dringend etwas geschehen«, sagen sie. Sie befürchten, dass sich die Situation weiter zuspitzt, denn die von der Bundesregierung angekündigten Hilfen, wie das Bürgergeld und die Erhöhung des Wohngeldes, müssen auch bei den Menschen ankommen.

Sozialarbeiterinnen in Gießen: »Diese Zeit haben die Leute nicht«

Und das ist nicht so einfach. Wenn in der Wohngeldstelle des Landkreises und im Jobcenter die Zahl der Mitarbeitenden nicht deutlich aufgestockt werde, verzögerten sich die langen Wartezeiten noch mehr. »Diese Zeit haben die Leute aber nicht«, verdeutlicht Schütz. Derzeit dauere es bis zu fünf Monate, bis ein Antrag auf Wohngeld bearbeitet sei.

Viele Menschen mit kleinem Budget seien mit der jetzigen Situation überfordert, da ihnen die Kenntnisse darüber fehlten, ob sie Anspruch auf Unterstützung hätten und wenn ja, wie sie ihn geltend machen könnten. Zum 1. Oktober hätten viele Vermieter die Bescheide über die neuen Heizkosten verschickt, die deutlich teurer werden. Dadurch kämen mehr Mieter als bisher in einen Einkommensbereich, mit dem sie einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II (ALG II) oder Wohngeld hätten. »Wer jetzt noch nicht anspruchsberechtigt ist, wird es eventuell ab Januar und sollte nun schnell tätig werden«, sagt Schütz. Die angekündigten Hilfen seien richtige Schritte, keine Lösung sei jedoch für die gestiegenen Stromkosten in Sicht.

Eines der drängendsten Probleme sei die Situation auf dem Wohnungsmarkt. Dass es zu wenig Wohnungen gebe und immer mehr Sozialwohnungen aus der Bindung fielen, sodass die Mieten anstiegen, sei für ihre Klientel fatal, beschreibt die Caritas-Expertin. Leider gebe es auch auf dem privaten Wohnungsmarkt zu wenig gut erhaltene Wohnungen zu angemessenen Preisen. Manchmal seien die Angebote unzumutbar. Schütz: »Ich spreche von verschimmelten Wänden und Ratten.« Insbesondere für alte und behinderte Menschen sowie für Frauen mit Kindern sei die Lage katastrophal. Immer häufiger komme es vor, dass Pflegegeld oder Geld aus dem Teilhabe- und Bildungspaket, das für Hefte und Stifte gedacht sei, für Strom oder Miete eingesetzt werde.

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Die Sozialarbeiterinnen Louise Svetaschov (l.) und Brigitte Schütz fordern flexible Lösungen auch von den verantwortlichen Politikern vor Ort. © Oliver Schepp

Gießen: Es fehlt bezahlbarer Wohnraum

Diese Beobachtungen bestätigt auch Louise Svetaschov, die mit ihrer Kollegin Zehra Özogul-Eraslan das Frauenhaus des Sozialdienstes Katholischer Frauen leitet. »Viele Klientinnen entkommen der Gewalt nicht, weil bezahlbarer Wohnraum fehlt«, schildert sie. Von zwölf Frauen, die 2021 im SkF-Frauenhaus mit ihren Kindern Zuflucht gesucht hätten, hätten nur drei in eine eigene Wohnung ziehen können. Vier Frauen seien sogar wieder zu ihren gewalttätigen Männern gegangen. Weil die Frauen keine bezahlbaren Wohnungen finden, bleiben sie länger im Frauenhaus. Die früher übliche Verweildauer ist von drei auf sechs Monate gestiegen. Das bedeute nicht nur hohe Kosten, sondern auch, dass Plätze für neue Notfälle blockiert werden.

»Wir können leider nicht helfen, das ist auch für uns bedrückend«, sagt die SkF-Mitarbeiterin. Die Sozialarbeiterinnen fordern, dass die Richtlinien für Unterkunftszahlungen flexibler gestaltet werden. Die Sätze, die der Landkreis den Jobcentern für Unterkunft und Heizung vorgebe, müssten unbedingt an die tatsächlichen Kosten der Wohnungen angepasst werden. »Die Richtwerte für die Bruttokaltmiete, die eine Wohnung kosten darf, passen nicht zum Markt«, sagt Schütz. Für die Klienten hat das drastische Folgen: Ist die Kaltmiete nur fünf Euro teurer als in der Tabelle vorgesehen, dürfen sie nicht einziehen.

An manchen Tagen stehen auch die Beraterinnen ratlos da. Dann zum Beispiel, wenn Klienten berichten, dass sie nur noch jeden zweiten Tag richtig essen. Die Preissteigerung der Lebensmittel spüren alle Verbraucher. Für diejenigen, die jeden Cent umdrehen müssen, sind sie ein Riesenproblem. Toastbrot kostet plötzlich 99 Cent statt 59 Cent, die Packung Lieblingsnudeln ist mit 1,98 Euro unerschwinglich. »Und auf der Warteliste der Tafel stehen 500 Menschen«, seufzt Schütz. (Christine Steines)

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