Kampf um Wohnprojekt in der Gießener Südanlage
Gemeinschaftswohnen von Behinderten, Familien und Studenten: Für dieses Ziel kämpft der Verein »Wohnen unter Freunden«. Doch die Stadt lehnt dieses Projekt ab – und zwar aus zwei Gründen.
Wir verlangen nichts von der Stadt außer Kooperation und Wohlwollen. Wir haben etwas zu bieten, wir sind Eigeninitiative.« Kornelia Marschner ist verärgert. Der Verein »Wohnen unter Freunden – Inklusives Wohnprojekt Gießen«, dessen Vorsitzende sie ist, hat kürzlich einen herben Rückschlag erlitten. Die Stadt lehnt die Bebauung hinter dem Haus Südanlage 13 ab. Marschners Eindruck: Man wolle die Innenstadt möglichst »problemfrei« besiedeln, Behinderte und sozial Schwache buchstäblich an den Rand drängen. Sie und ihre Mitstreiter würden verunglimpft als »die Bösen, die die Natur plattmachen wollen«. Doch nun machen die Mitglieder mobil.
In den ersten Tagen einer Unterschriftensammlung spürten sie »breiten Rückhalt aus der Bevölkerung«, berichten Lydia Schmucker und Tanja Heidinger beim ersten Infostand im Seltersweg. Nachdem der Aufstellungsbeschluss zum Bebauungsplan den Bauausschuss passiert hat, sieht sich »Wohnen unter Freunden« unter Druck. Am 27. September soll die Stadtverordnetenversammlung die Vorlage verabschieden.
Dass der Verein auf dem Grundstück der evangelischen Kirche nicht zwei Häuser mit insgesamt bis zu 24 Wohnungen errichten darf, hat laut Stadt zwei Gründe: Die Gebäude fügten sich »nicht in die Eigenart der näheren baulichen Umgebung«; überdies müsste der »schützenswerte« Baum- und Grünbestand im Hinterhof weichen.
Hohe humanklimatische Bedeutung
Auf GAZ-Anfrage präzisiert Magistratssprecherin Claudia Boje: Die Restbestände der Gärten hinter den Gründerzeithäusern um den Anlagenring hätten »hohe humanbioklimatische Bedeutung«. Auch der Artenschutz verbiete eine derart massive Nachverdichtung.
Die Unterschriftensammler können indes auf den ausliegenden Plänen »relativ viel Grün« präsentieren. »Außerdem ist in unserem Fall wirklich die Frage, was wichtiger ist: Menschen oder Bäume?«, finden sie. Ein solches Mehrgenerationenprojekt gehöre mitten in die Stadt – und nicht etwa auf das ehemalige Motorpool-Areal (siehe Kasten).
Grundsätzlich würde sich »Wohnen unter Freunden« auch anderswo ansiedeln. »Wir haben mindestens vier Grundstücke konkret angesprochen«, unterstreicht Marschner, von der Weststadt bis Wieseck. Doch alle seien abgeschmettert worden mit Begründungen wie: Zu viele Geschosse, zu nah an Hochspannungsleitungen, kein Kanalanschluss möglich. An etlichen Stellen hätten Investoren dann ohne solche Einschränkungen bauen dürfen, obwohl sie fast nur »hochpreisigen« Wohnraum planten. Marschner: »Man bekommt das Gefühl, manche werden gleicher behandelt als andere.«
Übliche Wohnformen passen nicht
Mitarbeiter der Evangelischen Behindertenseelsorge gründeten den Verein vor fünf Jahren. Sie nahmen sich damit einer Sorge an, die viele Eltern von Menschen mit Handicap bewegt: Wie sollen ihre »Kinder«, oft über 30 alt, künftig wohnen, wenn das zu Hause nicht mehr geht? Die Plätze sind knapp. Außerdem, erläutert Marschner, passten für die meisten Betroffenen die üblichen Angebote nicht. Für stationäre Heime seien sie »zu fit«, bräuchten aber mehr als sechs Stunden Unterstützung wöchentlich, die das »betreute Wohnen« vorsieht. Ein Gemeinschaftsprojekt wäre die Lösung. Das könnte auf einer »gewachsenen Struktur« mit einer guten Mischung von Interessenten aufbauen.
Doch die Gespräche mit Verwaltungsexperten und – wenn Einladungen überhaupt wahrgenommen wurden – Lokalpolitikern seien sämtlich in vage Aussagen gemündet, so Marschner. Motto: Eigentlich sinnvoll, aber nicht machbar. Ministerpräsident Volker Bouffier habe sich Zeit genommen und mehr Verständnis gezeigt, aber nichts unternehmen können.
»Wir wundern uns über die Kritik«, hält Boje dagegen. In Form von Beratung erfahre der Verein viel Unterstützung der Stadt. Bei den Ankaufsversuchen, die scheiterten, habe es sich ausschließlich um private Grundstücke gehandelt. Die Stadt habe keinen Einfluss darauf, »wer an wen verkauft«. Der Vorwurf der Ungleichbehandlung sei ungerechtfertigt. Jeder Standort sei nach den jeweiligen Verhältnissen zu beurteilen.
100 Unterschriften kamen vergangenen Samstag zusammen. Mindestens doppelt so viele sollen es sein, wenn »Wohnen unter Freunden« sie der Stadt überreicht. Wer den Verein unterstützen oder sich informieren will, hat dazu Gelegenheit im Internet (www.wohnenunterfreunden.de) oder am heutigen Samstag im Seltersweg.
Zusatzinfo
Motorpool als Alternative?
»Sehr gute Chancen« hat »Wohnen unter Freunden« auf ein Grundstück auf dem ehemaligen Motorpool-Gelände. Darauf weist Magistratssprecherin Claudia Boje noch einmal hin. Die »lobenswerte Initiative des Vereins« habe maßgeblich dazu beigetragen, dass der Magistrat vor zwei Jahren beschlossen hat, eine Teilfläche zur Realisierung von gemeinschaftlichen und besonderen Wohnformen anzubieten. »Von Beginn an haben wir auf diese Fläche verwiesen«, auch die Oberbürgermeisterin persönlich. Die Stadt würde es »sehr begrüßen«, wenn sich der Verein Anfang des nächsten Jahres beim Vergabeverfahren bewerben würde. Die Grundstücke würden dank Fördermitteln deutlich günstiger als auf dem freien Markt. Der Verein kann sich mit dieser Lösung indes nicht anfreunden. Die Flächen seien zu teuer, erklären einige der Eltern. Die Vorsitzende Kornelia Marschner befürchtet eine »Gettoisierung« unterschiedlicher sozial schwächerer Gruppen an der Grünberger Straße.