Junge Menschen von schiefer Bahn holen

Es ist ganz normal, dass Kinder und Jugendliche Grenzen austesten und die dann überschreiten. Doch wenn sie Straftaten begehen, bekommen auch sie Besuch von der Polizei - in Gießen von den Frauen und Männern des Jugendkommissariats 33.
Die meisten Zwölfjährigen stecken mitten zwischen Kindheit und Pubertät, zwischen dem Wunsch nach Geborgenheit und dem Drang, auszubrechen. Sie testen Grenzen aus - und überschreiten sie. Das gehört zum Großwerden genauso dazu wie Pickel oder unkontrolliertes Erröten bei jeder noch so kleinen Kleinigkeit. Der Zwölfjährige, von dem Hartmut Sator erzählt, ist da ein ganz anderes Kaliber. Er hat die Grenzen des Strafgesetzbuches bereits jetzt zu oft überschritten. Polizeilich ist er 30 Mal in Erscheinung getreten - vom Raub eines Fahrrads bis hin zur Körperverletzung. Solche Kinder aufzugeben, ist für Sator, polizeilicher Jugendsachbearbeiter im Kommissariat 33 und regionaler Jugendkoordinator für Stadt und Landkreis Gießen, und seine Kollegen keine Option.
Spektakuläre Fälle von Gewalt an Schulen und die Zunahme von Gewaltdelikten Jugendlicher in den Kriminalstatistiken seit Mitte der 90er Jahre hatten die Gewaltbereitschaft und das Aggressionsverhalten junger Menschen zu einem zentralen Thema der öffentlichen Debatte und der Politik gemacht. Experten zweifeln daran, dass die Zahlen wirklich gestiegen sind. Nur habe die Bereitschaft von Geschädigten zugenommen, ihre Peiniger anzuzeigen, schrieb der Kriminologe Christian Pfeiffer bereits vor elf Jahren in der Süddeutschen Zeitung.
Die Polizei reagiert auf öffentliche Debatten und auf die - gefühlte und reale - Zunahme von Straftaten auch mit der Gründung von Arbeitsgruppen. 1998 entstand in Gießen die AGGAS, weil zum Beispiel Schulen angesichts der dort auftretenden »Gewaltphänomene« mit ihren pädagogischen Möglichkeiten an Grenzen stießen, erzählt Sator. Da Behörden wie die Polizei Abkürzungen lieben, hier die Übersetzung: Arbeitsgruppe Gewalt an Schulen. 2013 wurde diese schließlich in das neu gebildete Jugendkommissariat K33 integriert.
Sator war zehn Jahren lang Streife in Bad Homburg und Gießen gefahren, bevor er 2009 polizeilicher Sachbearbeiter im Bereich der Jugendkriminalität wurde. So gut wie keine Nachtdienste müsse er heute machen, sagt er mit einem Augenzwinkern. Aber die Bandbreite der Delikte, mit denen er zu tun hat, ist gleich groß geblieben. Dafür macht die Prävention heute einen größeren Anteil seiner Arbeit aus als früher. Auch deshalb geht der 56 Jahre alte Ermittler seinem Beruf noch immer mit Leidenschaft nach.
Dass die Polizei ein Kommissariat für Jugenddelikte ins Leben gerufen hat, hat nichts mit hemdsärmligem Aktionismus zu tun. Getreu dem Motto: Den jungen Straftätern zeigen wir jetzt mal die Stärke des Rechtsstaats. Die Idee dahinter ist, dass verschiedene Institutionen wie Polizei, Jugendamt, Kitas, Schulen, Jugendclubs oder Vereine an einem Strang ziehen. Ihr Ziel: Kinder und Jugendliche begleiten, damit sie nicht abgleiten in die Kriminalität - »und sich keine Jugenddeliquenz festigen kann«, betont Sator.
Kinder unter 14 Jahren sind nach deutschem Recht schuldunfähig und können nicht nach dem Strafgesetzbuch belangt werden. Vom Vorschlag, das Alter der Strafmündigkeit auf zwölf herabzusenken, hält Sator nicht viel. Denn den Behörden seien auch heute nicht die Hände gebunden, wenn jemand in diesem Alter eine Straftat begeht. Das Familiengericht könne ein solches Kind aus der Familie holen und in einer Jugendwohngruppe unterbringen, wo es betreut und unterstützt wird. Zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr sind Jugendliche strafmündig. Bei Heranwachsenden, zwischen 18 und 21 Jahren entscheidet das Jugendgericht im Einzelfall und wendet grundsätzlich das Jugendstrafrecht an. Die Idee dahinter: Junge Menschen werden nach einer Strafanzeige nicht bestraft, sondern erzogen.
Jährlich müssen aus dem Gießener Stadt- und Kreisgebiet drei junge Menschen in der Justizvollzugsanstalt Rockenberg ihre Jugendstrafe absitzen. Von 100 Kindern und Jugendlichen seien es in der Regel fünf, die auffällig seien, weil sie altersuntypisches Verhalten zeigten, sagt Sator. »Bei diesen jungen Menschen müssen wir genau hinschauen und mitunter klare Ansagen machen.«
Menschen sind nicht von Geburt an böse oder gut. Sie sind das Produkt der Gesellschaft, ihrer Sozialisierung, ihrer Erziehung und ihres Freundeskreises. Gerade die Clique, sagt Sator, sei entscheidend, welchen Weg ein junger Mensch einschlägt. Ein weiterer wichtiger Punkt sei die Familiensituation: »Jedes dritte Kind in Gießen wird von nur einem Elternteil großgezogen, in der Regel von der Mutter«, sagt der Polizist. Gerade Jungs bräuchten den Vater als Identifikationsfigur. Fehle der komplett in ihrem Leben, könne dies Auswirkungen auf den weiteren Weg des Kindes haben. »Wenn aber der Vater zwar anwesend ist, aber häusliche Gewalt ausübt, dann muss man sich nicht wundern, dass das einen entscheidenden Einfluss auf Kinder haben muss«, betont er.
Ein weiteres Problem stelle die frühe Verfügbarkeit von internetfähigen Smartphones in jungen Jahren ohne elterliche Aufsicht dar, betont Sator. Es komme oft vor, dass sich in Gruppenchats strafrelevante Inhalte fänden - wie Missbrauchsdarstellungen. »Was das mit Kindern macht, darüber müssen wir uns nicht unterhalten«, sagt er. So klischeehaft das jetzt klingen mag: Wächst ein Kind in einer liebevollen Umgebung auf, mit Eltern, die sich für ihr Kind interessieren, ist es weniger wahrscheinlich, dass es polizeilich in Erscheinung treten wird.
Geschieht dies doch, steht im K33 die klassische Polizeiarbeit an: Beweise sammeln und entlastenden Hinweisen nachgehen. Manchmal helfe es schon, erzählt Sator, wenn die Polizei um 6.30 Uhr bei einem begründeten Verdacht auf eine Straftat mit einem richterlichen Durchsuchungsbeschluss im Jugendzimmer steht und das Smartphone beschlagnahmt. Oder das Kind wird zusammen mit seinen Eltern zum Gespräch ins K33 in die Ludwigstraße eingeladen. »Manche von denen, die erwischt werden, bedanken sich später bei uns«, sagt Sator.
Die Arbeit des K33 besteht nicht bloß aus Repression, wie Sator betont. Prävention spiele eine große Rolle - vielleicht sogar die entscheidende. Deshalb bieten die Ermittlerinnen und Ermittler an, in Schulen an Dienstversammlungen oder Fortbildungen teilzunehmen, um Lehrkräfte zu sensibilisieren. »Schulen sind neben den Eltern die primäre Erziehungsinstanz«, sagt Sator. »Umso wichtiger ist es, die Netzwerke zu pflegen, um frühzeitig aufzuklären.« Denn es braucht nicht nur ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen. Es braucht auch viele Institutionen, um straffällig gewordene Kinder und Jugendliche wieder von der schiefen Bahn zu holen.