1. Gießener Allgemeine
  2. Gießen

Jugendamt Gießen: Fachleute und Betroffene äußern erneut Kritik

Erstellt:

Kommentare

An ihre Kontakte mit dem Jugendamt im Rathaus-Atrium denken viele Bürgerinnen und Bürger mit Zorn und Beklommenheit.
An ihre Kontakte mit dem Jugendamt im Rathaus-Atrium denken viele Bürgerinnen und Bürger mit Zorn und Beklommenheit. © Oliver Schepp

»Jugendamt: Hinhalten statt helfen«. Dieser Bericht über die mangelnde Unterstützung für eine Jugendliche mit Borderline-Störung hat zahlreiche Reaktionen hervorgerufen. Fachleute wie Betroffene äußern vielstimmige Kritik. Was läuft schief im Rathaus?

„Ich habe den Horror erlebt«, »mir wurde auch nicht geholfen«, »die sind überfordert«: Der Bericht dieser Zeitung über den Leidensweg der psychisch kranken »Charlotte« und ihrer Familie hat hohe Wellen geschlagen. In Facebook-Kommentaren und Schreiben an die Redaktion äußern sich Eltern, Pädagogen und Juristen aus unterschiedlichsten Perspektiven über die städtische Behörde - und zwar einhellig negativ. Es gebe höchstens einzelne bemühte und fähige Mitarbeiter. Wo liegen die tieferen Ursachen dafür, dass gerade das Jugendamt der Stadt Gießen offenbar häufig Hilferufe verzweifelter Familien abblockt?

Um diese Frage zu klären, hat sich die Redaktion mit etlichen Experten und Betroffenen in Verbindung gesetzt. Dabei ging es weniger um Details im Einzelfall. Insbesondere bei »Inobhutnahmen« wegen vermuteter Kindeswohlgefährdung ist eine Bewertung von außen schwierig.

»Man steckt nicht drin«, weiß zum Beispiel eine Anwältin. Sie habe einmal eine Rückführung von Kindern zu den Eltern erreicht und musste feststellen. »Das ist sowas von in die Hose gegangen.«

Andere Leserinnen und Leser monieren indes, die Behörde sei allzu schnell bereit, Kinder ihren Eltern »wegzunehmen«. Schon ein Berg Bügelwäsche in der ungeputzten Wohnung könne ausreichen, damit eine unerfahrene Fachkraft aus wohlbehüteten Verhältnissen eine Überforderung der alleinerziehenden Mutter vermutet. Mehrere Gesprächspartnerinnen schildern Fälle, in denen »unbewiesenen Behauptungen« des Vaters über die Mutter geglaubt wurden. Eine Juristin bemängelt, häufig nehme das Amt Kinder aus den Familien, »ohne zuvor mildere Hilfen einzusetzen«.

Eine Erfahrung, die »Charlottes« Eltern machen mussten, bestätigen reihenweise Leserinnen und Leser: Mitarbeiter verschleppten die Fälle, »ducken sich weg«, »reden Probleme klein«, »sind nicht erreichbar«, »lassen uns allein«, »es wird nicht mit den Eltern gearbeitet, sondern gegen diese« - ob es um Drogenprobleme geht oder gar um mutmaßlichen sexuellen Missbrauch.

»Es wird eher nach den ›kleineren‹ Kindern geschaut«, weil Hilfe für Jugendliche weniger Erfolg verspreche, vermutet eine Studentin mit einschlägigen Einblicken. »Den Jugendämtern fehlt im Bereich der Hilfen zur Erziehung einfach das Geld, um auf alle Altersgruppen zu schauen.«

Jugendamt Gießen: »Gießen ist echt speziell« - warum?

Überlastung, Fachkräftemangel, »Wahnsinns-Dokumentationspflichten«, Sprachprobleme - darunter leiden auch andere Jugendämter, und tatsächlich bezieht sich ein Teil der Kritik auf die Behörde des Landkreises. Doch »Gießen ist echt speziell«, schreibt eine Facebooknutzerin, und Experten bestätigen das. Warum?

Immer wieder wird die ehemalige Abteilungsleiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) genannt. »Sie lässt keine anderen Meinungen gelten«, sagt ein Insider im GAZ-Gespräch. Junge Mitarbeiter hätten »Angst, irgendetwas zu entscheiden«. Eine andere ergänzt: »Wer als überengagiert gilt, wird zurückgepfiffen.«

Diese Abteilungsleiterin habe auch die Linie durchgesetzt, kaum noch sozialpädagogische Familienhilfen zu gewähren. Daran übten Vertreter freier Träger mehrfach öffentlich Kritik. Das Jugendamt sei »geiziger« geworden, bedauert eine Leserin. Dabei sei gerade niedrigschwellige Unterstützung etwa beim Sportvereinsbeitrag hilfreich.

Im Frühjahr 2018 stellten sich allerdings im Sozialausschuss zehn, im Jugendhilfeausschuss sogar zwölf ASD-Mitarbeiter demonstrativ hinter ihre Abteilungsleiterin. Sie erklärten, es gebe kaum Personalwechsel und ein erfolgreiches Einarbeitungskonzept.

Stadträtin Gerda Weigel-Greilich (Grüne) hat die Abteilungsleiterin im April versetzt, nachdem eine Analyse ergeben habe, dass zu viel Entscheidungskompetenz bei ihr lag. Der Posten soll nun auf zwei Personen verteilt werden. Auch die Führung des Jugendamts liegt seit anderthalb Jahren - eine Premiere in der Stadtverwaltung - bei einer Doppelspitze. Damit sei die Behörde »auf einem guten Weg«, meint Weigel-Greilich.

Viel zu spät habe die Stadträtin reagiert, meint ein ehemaliger Mitarbeiter des Jugendamts. Schließlich sei die Grüne bereits seit 2006 Jugenddezernentin. Sie trage »die Verantwortung für das Organisationsversagen«.

Jugendamt Gießen: Verantwortliche nehmen Stellung

Die GAZ hat die Stadt erneut um Stellungnahme zu den umfassenden Vorwürfen gegen das Jugendamt Gießen gebeten. Einem Interview stellen sich in diesen Tagen sowohl Jugenddezernentin Gerda Weigel-Greilich (Grüne) als auch die beiden Amtsleiter. Der Verwaltungsfachmann Holger Philipp führt die Behörde seit 2011. Seit anderthalb Jahren steht ihm Annette Pradel zur Seite. Sie ist zuständig für Pädagogik, Sozialarbeit und Jugendhilfe. Über ihre Sicht der Probleme und Lösungsmöglichkeiten berichtet die GAZ am Montag, 17. August.

Auch interessant

Kommentare