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Jeder sein eigener Kurator

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Belcim Yavus und Valeriia Shakhova (o.) performen in der Galerie 23, »Couchartist« Burcak Konukman (u. l.) verleiht sich selbst den »Gießener Kunstpreis« und die Arbeitsloseninitiative steuert Schuhkunst bei (M.). © Christian Lugerth

Gießen (clg). »Komm mach einfach mit! Hu! Yeah! Komm sing einfach mit!«, heißt es in einem Kinderlied. Ist man den Kinderschuhen entwachsen, heißt das Partizipation, transkulturelle Begegnung und Vernetzung auf niedrigschwelligem Niveau. Doch meist wird nichts so bedeutsam gesungen, wie es angekündigt wird.

Am zweiten Tag machte die Giennale, welche noch bis zum 10. September an diversen Orten in der Stadt stattfinden wird (www.giennale.de), in der Galerie 23 und im Biergarten des Ulenspiegel Station. Die dritte Ausgabe des soziokulturellen Festivals steht unter dem Motto »Das ist doch von oben gar nicht gewollt«.

Lebenstauschtag und Klangerlebnis

Betritt man den Biergarten sitzen linker Hand mehrere Personen um einen Tisch und formen Tonplastiken. Diese sollen zu Keramiken gebrannt werden und im Rahmen der Installation »Spielräume« von Hannes Borgmeier und Markus Henschler ausgestellt werden. Die späteren Besucher dürfen dann als Kuratoren wirken und die Kunstwerke nach ihrem Gusto im Raum platzieren. Überall im Garten ausgestellt sind schon vollendete Werke der Arbeitsloseninitiative Gießen. Unter dem Motto »eigen ständig keit« wurden alte Schuhe und Stiefel zu kreativen Schauobjekten umgemodelt und mit einer Papptafel versehen. Darauf ist notiert, was man für die Zukunft wünscht und wie man Veränderungen herbeiführen könnte. Für sich und die Gesellschaft. Schuhe quasi als Symbol für die eigenen Schritte.

Weiter hinten steht Tina Klopp mit ihrem kleinen Sohn und möchte deutschlandweit einen neuen Feiertag einführen. Der 4. Oktober soll der »Lebenstauschtag« werden, an dem z. B. die Vorsitzende des Erziehungsausschusses mit einer alleinerziehenden Mutter tauscht oder ein Unternehmer mit einem Verpacker bei einem Versandunternehmen. Der Rollentausch diene der Entwicklung von Empathie, so Klopp. Heute könne man schon mal unter Zuhilfenahme von »Walkie-Talkies« trainieren, wie es um die eigene Empathiefähigkeit steht, indem man sich mit einem Gegenüber über Vorlieben, Vorurteile und Vorhaben austauscht, danach die Rollen wechselt und sich die Überzeugungen des Anderen zu den eigenen macht.

Im Hintergrund beschallt das DJ-Duo Uncle und Paschulke den Biergarten mit Rock und Soul. Darunter mischen sich Klänge, deren Ursprung die Klanginstallation »SO_UND :NOW?« des Künstlerteams Clasen und Phouthavong ist. Ein mit Parolen und herrlichen Kritzeleien bemalter Kubus ist mit sensorischen Feldern versehen. Die vorinstallierte Klanginstallation kann durch Berühren dieser Felder neu gestaltet werden.

In der Galerie 23 zeigen Belcim Yavus und Valeriia Shakhova ihre eindrückliche Performance »Sense or?«, die sie im Rahmen ihres Studiums an der Bauhaus-Universität Weimar erarbeitet haben. Yavus betritt den abgedunkelten Raum, kniet nieder wie zum Gebet, schlägt gegen die Wände. Dann beschießt Shakhova sie mit den Parolen alter weißer Politiker (»Meine Damen und Herren, wer keine Eier hat, sollte nicht studieren!«) und einem Lichtstreifen, der mal horizontal, mal vertikal, mal schmal, mal breiter, die Tänzerin zwingt, zu reagieren. Erst defensiv, dann offensiver schafft Yavus es, der Lichtstrahl mutiert zu den Gitter-stäben eines Gefängnisses, sich aus der Fremdbestimmung zu befreien. In »Freiheit« findet sie Touchpads. Berührt man die, beendet ein Pfeifton den Politikersprech.

Dann noch die erstmalige Verleihung des »Gießener Kunstpreises«. Der selbsternannte »Couchartist« Burcak Konukman hat diese Auszeichnung nicht nur erfunden, verleiht sie auch sich selbst und hält, auf dem Grat zwischen Narzissmus und Selbstironie balancierend, die Laudatio auf seine künstlerischen und sonstigen Fähigkeiten. Dann klampft er ein scheußlich schönes Liedchen. »Love is ok«. Und viele singen mit.

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gien1_060922_4c © Christian Lugerth
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gien2_060922_4c © Christian Lugerth

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