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Jeder Schritt ist ein Triumph

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Von: Stefan Schaal

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Die querschnittsgelähmte Gießenerin Anouk Schmitt kann laufen – dank eines Apparats, der sich wie ein Skelett um ihre Beine schließt.

Anouk Schmitt läuft. Immer wieder schüttelt sie den Kopf. »Geil«, sagt die 24-Jährige mit hochrotem Kopf, während sie durch die Kunsthalle marschiert. Jeder Schritt ist ein Triumph. Denn Anouk ist querschnittsgelähmt. Ihr Rollstuhl, mit dem sie in die Halle gefahren ist, steht verlassen an einer Wand. Dank eines computergesteuerten Apparats aber kann sie gehen. Sie hebt ihren Kopf, lacht und sagt: »Läuft.«

Die Medizin- und Psychologiestudentin sitzt seit zwei Jahren im Rollstuhl. Im November erzählte sie der Gießener Allgemeinen Zeitung ihre Geschichte. »Ich wollte mir in der Küche einen Kaffee kochen, als ich plötzlich meine Beine nicht mehr gespürt habe«, schildert sie. »Dann knickten sie zusammen. Wie Streichhölzer.« Es war der Ausbruch einer Autoimmunerkrankung, die Ähnlichkeit mit multipler Sklerose hat. Die Ursache: eine missglückte Hepatitis-Impfung. Ab dem zehnten Brustwirbel ist Schmitt inkomplett querschnittsgelähmt. Über ihr Leben »das auch mit Rollstuhl richtig schön und lustig sein kann«, schreibt die Studentin auf ihrem Blog www.th-10.de.

Dass die querschnittsgelähmte Gießenerin indes gehen kann, macht ein Apparat möglich, der sich wie ein Außenskelett um sie schließt. Die 24-Jährige schnallt sich schwarze längliche Kästen um Beine und Rücken. Sie schlüpft in Schuhe, die mit dem sogenannten Exoskelett verbunden sind. Dann drückt sie auf den Knopf eines kleinen Geräts an ihrem linken Unterarm, das wie eine Uhr aussieht. Der Gehapparat beginnt, Anouk zu bewegen. Sie erhebt sich aus ihrem Rollstuhl.

Zum vierten Mal läuft die Studentin mit dem System. Neigungssensoren geben den Impuls für die Schritte, die von einem mechanischen hellen Surren begleitet werden. Hinter Schmitt läuft ihr Trainer, Andreas Schröer. »Den Oberkörper gerade halten«, sagt er. Sie habe noch Angst, hinzufallen, gesteht die junge Frau. »Ich schaue noch zu sehr, was die Füße machen.«

Bis zu 60 Trainingsstunden seien nötig, bis man sich problemlos mit dem Exoskelett bewegen könne, erklärt der Trainer. Dann raunt er leise: »Anouk wird keine 20 Stunden brauchen.« Körperlich anstrengend sei es nicht, betont die. Es sei so leicht wie Fahrradfahren. »Ich werde ja gelaufen.«

In der Kunsthalle bleibt Schmitt vor einem Bild stehen. Ihr Freund Lukas stellt sich neben sie, legt den Arm um ihre Schulter. Sie lehnt sich an ihn. Versonnen ruht das Paar vor dem Kunstwerk. »Das ist ein Gefühl wie früher«, sagt die 24-Jährige. Dann fügt sie hinzu: »Ich bin stehend einfach einen halben Meter größer. Sitze ich im Rollstuhl, neigen die Menschen dazu, mich zu bemuttern. Man schaut dann natürlich zu mir herab.«

Die Gießenerin trainiert in der Kunsthalle mit dem Exoskelett für Filmaufnahmen mit dem Fernsehsender RTL. Das Drehteam verlangt ihr einiges ab. Als der Kameramann eine scharfe Drehung wünscht, antwortet Schmitt: »Ihr seid aber optimistisch. Das ist eine krasse Kurve.« Auch dämliche Fragen muss sie über sich ergehen lassen. Ein Fotograf will wissen: »Beim Laufen mit dem Apparat: Was für ein Gefühl hast du in den Beinen?« Doch Schmitt lässt sich die Laune nicht verderben. »Ich habe kein Gefühl in den Beinen«, antwortet sie. Und läuft weiter. Sie genieße einfach »einen wirklich guten Tag in einem wirklich guten Leben.«

Das Laufen mit dem Gehapparat gehört noch nicht zum täglichen Leben der Gießenerin. Dafür muss sie kämpfen. Das Exoskelett kostet 82 500 Euro. Die Krankenkasse sträubt sich erfahrungsgemäß, die Kosten zu übernehmen. »Wir haben eine Probephase von drei Monaten beantragt«, erzählt Schmitt. Ihr Körper, erklärt sie, sei 20 Jahre gewohnt gewesen, sich laufend fortzubewegen. Zu stehen bedeute nicht nur, mit anderen auf Augenhöhe zu sein, sondern ihrem Körper etwas Gutes zu tun. Das Laufen habe bei ihr »einen Suchtfaktor« entwickelt. »Je mehr ich laufe, desto mehr fehlt es mir.« (Foto: Schepp)

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