Jeden Monat kommt das Bücher-Taxi

Der Name des Projekts klingt nüchtern und sachlich. »Buchkreislauf«. Dass dahinter Leidenschaft und viele Emotionen aller Beteiligten stecken, wurde beim Start deutlich. Die Stadtbibliothek hat mit dem Verein Ehrenamt und vier Altenpflegeheimen einen Weg gefunden, Senioren an Literatur teilhaben zu lassen.
Im Saal ist es still, alle hören aufmerksam zu. Der Oberbürgermeister hat in einem bequemen Lesesessel Platz genommen, neben ihm steht eine Tasse Kaffee und ein Teller mit Keksen. Frank-Tilo Becher liest in gemütlichem Rahmen eine Geschichte vor. Von der Zeit, die manchmal nicht vergehen will, die totgeschlagen werden muss, die davonrennt, die man nicht einholen kann oder die Menschen im Idealfall das Hier und Jetzt genießen lässt.
Vor einem Jahr hat Guido Leyener-Rupp gemeinsam mit einigen engagierten Mitstreitern das Projekt Bücherkreislauf an den Start gebracht, begeisterte Kooperationspartner waren von Anfang an der Verein Ehrenamt und die Caritas-Pflegeheime St. Anna und Maria Frieden, das Albert-Osswald-Haus der Arbeiterwohlfahrt und das Alloheim an der Moltkestraße.
Einmal pro Monat bringen die Ehrenamtlichen Michael Groth und Birgit Koch mit einem städtischen Lastenrad neue Bücher in die Einrichtungen. Dort, so schildern es Franziska Feick und Lisa Peppler vom sozialen Dienst der Caritas-Einrichtungen, freuen sich die Bewohner und Bewohnerinnen immer auf neues Lesefutter. »Eine unserer Seniorinnen liebt Biografien und hat es immer sehr bedauert, dass die Besuche in der Stadtbibliothek zu beschwerlich für sie wurden«, schildert Feick. »Deshalb kommen die Bücher nun zu ihr«, ergänzt Leyener-Rupp. Das Beispiel verdeutlicht die Intention des »Buchkreislaufs«: Die »Erfinder« wollen die Vielfalt der Literatur zu den Menschen bringen. Rund 150 Bücher seien derzeit in der Stadt unterwegs, erklärt der Bibliotheks-Leiter, fünf Regale werden in den Heimen nach den Wünschen der Bewohner bestückt.
In St. Anna und Maria Frieden waren in den vergangenen Monaten Kurzgeschichten und Bildbände angesagt, in einem anderen Heim stand den Lesern eher der Sinn nach Krimis. Nach einem Jahr der Erprobung hatten Stadt und Caritas nun zum ersten Vorlese-nachmittag eingeladen. »Es ist ein Herzensprojekt von Guido Leyener-Rupp, und als ich das erste Mal davon hörte, hat das auch mein Herz berührt«, bekannte OB Becher.
Ähnlich erging es auch den Ehrenamtlichen. Sophia Ott und Christina Hillmann, die sich ebenfalls mit Herzblut einbringen. Wer selbst gerne liest und Vorlesestunden aus seiner Kindheit oder mit den eigenen Kindern in guter Erinnerung hat, ist Feuer und Flamme für das neue Projekt.
»Wir sind für Sie da«, rief der Stadtbibliotheks-Leiter den Gästen bei der Projektvorstellung zu. Er und seine Mitstreiter werden Bücherwünsche erfüllen, sodass die Senioren nach Herzenslust in den Regalen stöbern können. Dass die Bücher nicht mit dem Auto angeliefert, sondern mit dem städtischen E-Bike ausgefahren werden, hat auch eine Signalwirkung in der Stadt. Wer das Bücher-Taxi mit seinen Kisten im Bug in den Straßen der Stadt entdeckt, lernt das Projekt sozusagen nebenbei kennen. In den nächsten Wochen, kündigte Leyener-Rupp an, wird auch Weihnachtslektüre mit an Bord sein. »Darauf freuen sich unsere Bewohnerinnen schon sehr«, weiß Lisa Peppler.
Doch bevor es in der Adventszeit soweit ist, erfreute nach dem Oberbürgermeister zunächst Christina Hillmann die Zuhörer mit einer philosophischen Geschichte der Autorin Bettina Obrecht. »Wie anders ist alt?«, fragt ein Kind seine Großmutter und erfährt in einem Dialog, dass manche Dinge sich nie ändern. Es tut gut, zu lachen oder wild zu tanzen, und manches kann man weder mit acht noch mit 80 Jahren ausstehen. Doch anders als in jungen Jahren kommen nicht immer neue Freunde hinzu, sondern immer mehr alte gehen für immer fort.
Die heitere, aber auch nachdenklich stimmende Bilderbuchgeschichte über die Kindheit und den letzten Lebensabschnitt war ein gelungener Auftakt für das Projekt und zugleich eine Ermunterung. Um in der Sprache des Buches zu bleiben: Wer als Kind gerne in Geschichten eintaucht, tut es als alter Mensch immer noch.