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»Jede Hinrichtung trifft auch uns«

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Von: Christine Steines

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Mutige Frauen stehen für den Aufstand der Iraner, die gegen das Terrorregime aufbegehren. © Red

Seit die Aufstände in ihrer Heimat begonnen haben, sind viele Iraner in Gießen in einem Ausnahmezustand. Sie bangen um das Leben ihrer Familien, die Angst ist ihr ständiger Begleiter. Zudem werden auch eigene Erfahrungen mit dem Terrorregime wach. Gleichzeitig sind sie voller Hoffnung, dass der Mut ihrer Landsleute Erfolg haben wird. Ein Kreis Iraner, der in der Johannesgemeinde eine religiöse Heimat gefunden hat, beschreibt die Situation.

Wenn Sahar* einen Polizisten in der Stadt sieht, bekommt sie Herzrasen. Auch nach vier Jahren in Gießen assoziiert sie die Uniformen mit der »Sittenpolizei« im Iran. Die Handlanger des Terrorregimes schlagen Frauen oder nehmen sie fest, weil das Kopftuch nicht richtig sitzt oder die Kleidung nicht genug verhüllt. Sahar ist nicht mitgekommen zum Gespräch, ihr Mann Hamid berichtet in der Runde von ihrer Furcht.

Die anderen Frauen nicken. Sie kennen solche Situationen: »Es gibt keine Freiheit bei uns. Nur Willkür«, sagt Farnaz. Die 41-jährige hat in Teheran Psychologie studiert, vor einigen Jahren kam die Mutter zweier Kinder mit ihrem Mann nach Deutschland. Das Ehepaar wollte sich öffentlich zum Christentum bekennen, das hätte jedoch im Iran die Hinrichtung bedeuten können. »Frauen, Leben, Freiheit«, steht auf Farnaz T-Shirt. Für sie verbinden sich mit dem politischen Slogan des Aufstands viele Gefühle: Mut, Hoffnung, Kampfgeist.

»Unsere Frauen sind unsere Heldinnen, ihr Mut ist ein Geschenk für unser Land«, sagt Kambiz Madjidian. Der Psychiater lebt schon seit vielen Jahren in Deutschland. Er ist in der Vitos-Klinik tätig und behandelt dort unter anderem geflüchtete Menschen. Er gehört nicht zum religiösen Kreis der Johannesgemeinde, aber er engagiert sich dort als Übersetzer und Gesprächspartner.

Die aktuellen Ereignisse im Iran weckten auch bei langjährigen Patienten Erinnerungen, schildert er. Er berichtet zum Beispiel von einer depressiven Frau, die als Kind erlebt hatte, wie die »Sittenpolizei« ihrer Mutter das Kopftuch mit Reißzwecken in die Kopfhaut stach. Die Frau hatte dieses Erlebnis gut verarbeitet, die jüngsten Ereignisse hätten jedoch zu einem Rückschlag geführt. »Es kommt alles wieder hoch«, sagt Madjidian.

Der Psychiater beklagt den hohen Preis, den das iranische Volk für seinen Mut zahlen muss. Aber er ist zugleich überzeugt davon, dass der Aufstand dazu führen wird, das Terrorregime zu stürzen. Madjidian ist gut vernetzt im In- und Ausland, er beteiligt sich europaweit an Demonstrationen und ist im ständigen Austausch mit Kollegen und Freunden im Iran. »Da bewegt sich etwas, auch die konservativen, privilegierten Kreise begehren nun auf.« Zudem beziehe Europa endlich Stellung. »Der unerträgliche Kuschelkurs ist vorbei«, sagt er. Noch vor zwei Jahren habe sich hierzulande kaum jemand für 1500 Tote nach einem Terroranschlag interessiert. Das sei nun anders. »Das erste Mal seit 44 Jahren haben wir die Europäer auf unserer Seite.« Das Ende des Regimes, das auf den Feindbildern USA und Israel sowie sich selbst bereichernden Clans basiere, sei absehbar, es bröckele bereits. Auch Hamid sieht aus diesen Gründen Hoffnung für sein Land. »Es gibt im Volk keinerlei Unterstützung«, ergänzt er. Schon lange gebe es im Iran ein von den Behörden kontrolliertes, vollständig überwachtes öffentliches Leben und ein geheimes, privates Leben im Untergrund.

Während Madjidian zuversichtlich in die Zukunft blickt, überwiegt bei den Frauen der Gesprächsrunde bange Skepsis. Die Sorge um die Familie und Freunde im Iran drücke schon seit Monaten auf die Stimmung, berichtet Pfarrer Michael Paul. »Ich erlebe die Menschen zutiefst deprimiert.« Früher habe man oft und fröhlich miteinander gefeiert, dazu fehle heute jede Motivation. Dies sei zum Teil der Pandemie und ihren Kontaktbeschränkungen geschuldet, aktuell sieht er die Ursachen aber in der Trauer und dem Schmerz begründet, mit dem die Iraner die Gewalt in ihrem Land beobachten.

»Wenn es eine Hinrichtung im Iran gibt, trifft es nicht nur einen Menschen, sondern unser ganzes Volk«, formuliert Hamid diesen Schmerz. Wie so viele Iraner, die in Deutschland leben, ist der 44-Jährige ein gut ausgebildeter Akademiker, er stand vor einigen Jahren noch vor einer glänzenden Karriere in Hochschule und Wirtschaft. Doch er und seine Frau haben sich gegen das Leben im Überwachungsstaat entschieden. »Was sind das nur für Werte«, fragt er. Da seine Frau Sahar und er Antworten auf existentielle Lebensfragen im Christentum gefunden haben, kehrten sie ihrem Land schweren Herzens den Rücken.

Auch Shabnam wäre lieber in ihrer Heimat geblieben, doch dann hätte sie sich nach der Scheidung von ihrer Tochter trennen müssen. »Unvorstellbar«, sagt sie. Deshalb packte sie vor fünf Jahren die Koffer und zog nach Deutschland. »Shabnam hatte unfassbar viel Angst, als sie damals zu uns kam«, erinnert sich Pfarrer Paul. Mittlerweile geht es ihr besser, aber frei von Angst ist sie nicht. »Wenn nicht jeden Abend eine Textnachricht von meinen Eltern kommt, kann ich nicht schlafen«, sagt sie. »Ich muss wissen, dass sie noch leben.«

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