»Intime Fotos« kursieren in Schule

Sexuelle Gewalt unter Jugendlichen wird viel zu oft als »pubertäres Ausprobieren« relativiert. Um darüber aufzuklären, haben Schülerinnen und Schüler der Theodor-Litt-Schule zusammen mit der Beratungsstelle Wildwasser nun einen Präventionsfilm gedreht. Darin kursieren intime Fotos einer Schülerin (15) in der Klasse.
Lösch das bitte«, sagt Melissa zu ihrem Klassenkameraden Max. Der zeigt ein intimes Foto von der 15-Jährigen auf seinem Smartphone herum und erwidert mit einem Lachen: »Tu nicht so, da hat’s dir nichts ausgemacht.« Von den anderen Jungen aus der Klasse wird Max dafür gefeiert. Eine irritierende Szene, die zwölf Schülerinnen und Schüler einer 13. Klasse der Theodor-Lit-Schule hier nachspielen. Die Aufführung auf der Kleinen Bühne in der Bleichstraße soll jedoch dabei helfen, solche und ähnliche Vorfälle in Schulklassen in Zukunft zu verhindern. Denn das Ergebnis der Zusammenarbeit von der Beratungsstelle Wildwasser und der Klasse für Darstellendes Spiel ist ein Präventionsfilm.
Das Thema des Aufklärungsvideos ist die sogenannte »Peer-to-Peer-Gewalt«, also sexuelle Gewalt, die von jungen Erwachsenen an Gleichaltrigen verübt wird. Kathrin Hick, Mitarbeiterin der Beratungsstelle Wildwasser Gießen, sagt: »Das wird oft als pubertäres Ausprobieren abgetan, aber es ist sexuelle Gewalt, die da geschieht.« Bei intimen Fotos von ganz kleinen Kindern sei das auch vielen klar, doch bei Jugendlichen geschehe dann eine Art Relativierung.
Ob in ihrer Klasse bereits intime Fotos von Mitschülerinnen oder Mitschülern kursiert sind, verneinen die Anwesenden. Einer sagt jedoch: »Aber ich habe schon davon gehört.« Dass die Schülerinnen und Schüler ihre eigene Expertise mitbringen, wie sich solche eine Szene in der Klasse abspielen würde, sei eine große Stärke von dem gemeinsamen Projekt, sagt Hick.
Lehrerin Aldona Watolla gibt der Darstellerin von Melissa derweil Tipps, wie sie die Verzweiflung, zum Beispiel mit einem Schlag gegen die Wand, noch besser zum Ausdruck bringen kann. Ihre Hilflosigkeit zeigt die Schülerin, indem sie das Gesicht hinter den Händen verbirgt, während die Jungen der Klasse das Foto untereinander austauschen.
Unterstützung durch Gleichaltrige
Wie Hick erklärt, setzten sich die Schülerinnen und Schüler zu Beginn des Projektes damit auseinander, wie sich Betroffene in der Situation von Melissa fühlen, was für Dynamiken sich in einer Klasse dabei abspielen, aber auch, wie ein Täter dabei vorgeht. »So wartet er zum Beispiel, bis der Lehrer aus dem Raum ist, um unentdeckt zu sein«, sagt Hick.
Eingerahmt wird das Drehbuch des Kurzfilms durch das Faktenwissen der Wildwasser-Mitarbeiterin. Das Opfer ist dabei eine Frau, der Täter ein Mann. Hick sagt: »Wir wollen das zeigen, was statistisch überrepräsentiert ist.« Im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern sei aber auch diskutiert worden, dass es ebenfalls männliche Opfer von sexueller Gewalt gebe. Auch die Auflösung der Situation im Film beruht auf dem Fachwissen von Hick. Sie erklärt dazu, dass in der Speak!-Studie, eine wissenschaftliche Untersuchung über sexuelle Gewalt an Jugendlichen, viele Befragte angegeben haben, dass sie sich bevorzugt an andere Jugendliche für Hilfe wenden würden. Melissa bekommt so im Film dann auch zuerst Unterstützung durch eine Freundin - »Lasst sie in Ruhe!« - erst dann holt sich die Schülerin schließlich Hilfe in einer Beratungsstelle.
Das entstandene Video soll nun zukünftig bei der Präventionsarbeit mit Jugendlichen eingesetzt werden. Es soll helfen, über sexuelle Übergriffe unter Gleichaltrigen, Täterstrategien, Gruppendruck, aber auch Hilfsmöglichkeiten zu reden.
Sowohl Kathrin Hick von Wildwasser, wie auch Lehrerin Aldona Watolla können sich in Zukunft weitere gemeinsame Projekte vorstellen. Watolla sagt: »Die Schüler haben das sehr gut aufgenommen.«
Wildwasser Gießen ist online unter der Internetadresse wildwasser-giessen.de zu finden.