Inklusives Haus eröffnet

Gießen (ige). Außen am Wohnhaus mit der Nummer 30A in der Straße Stolzenmorgen im neuen Baugebiet am Alten Flughafen steht nichts dran. Dies signalisiere »Normalität wie bei jedem anderen Haus, das hier steht«, sagte Dirk Oßwald, Vorstand der Lebenshilfe, bei der offiziellen Einweihungsfeier des Hauses.
In dem Gebäude wohnen Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf unter einem Dach: Allein in ihrer Wohnung, zu zweit, in einer Wohngemeinschaft oder in der Familie. Die Lebenshilfe will hier mit den Bewohnern eine Hausgemeinschaft entwickeln, in der sich alle wohl und zu Hause fühlen. Das Familienzentrum Sophie-Scholl im Erdgeschoss wurde bereits eingeweiht und ist organisatorisch von den Wohnangeboten getrennt.
Bei den Mietern mit Unterstützungsbedarf bietet die Lebenshilfe eine ambulante Hilfe in der eigenen Wohnung an. Die Mieter ohne Unterstützungsbedarf wohnen mit allen anderen unter einem Dach und fördern damit den inklusiven Gedanken. Die inklusive Wohngemeinschaft »WG am Flughafen« ist die zweite WG dieser Art bei der Lebenshilfe. Zehn Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf finden dort seit Kurzem ein neues Zuhause und üben sich im gemeinschaftlichen Wohnen. Sie werden dabei von den Fachkräften für inklusives Wohnen begleitet und unterstützt.
Außer der Groß-WG mit zehn Bewohnern gibt es in dem neuen Haus 22 Wohnungen. Neu ist die Form der begleiteten Elternschaft. Vier Wohnungen gibt es im neuen Gebäude dafür. Bei diesem Angebot gibt es Kooperationen mit dem Jugendamt. Nach vielen Jahren, in denen sich die Lebenshilfe mit dem Thema Elternschaft von Menschen mit Behinderung beschäftigt hat, und nach vielen fachlichen Diskussionen und Verhandlungen mit anderen Anbietern, verantwortlichen Personen aus der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe wurde in den letzten beiden Jahren ein Angebot für Mütter/Väter/Familien mit Unterstützungsbedarf aufgebaut. In dem Haus am Stolzenmorgen wurde dafür eine sogenannte Regiewohnung bezogen - als Basisstation für die Mitarbeiter der Begleiteten Elternschaft. Im Rahmen eines Schichtdienstes wird bei Bedarf 24 Stunden am Tag Unterstützung für aktuell drei Familien/Mütter mit Kind bereitgestellt, die in ihren eigenen Wohnungen im Haus wohnen. Weitere Einzüge sind in Planung. Die pädagogische Begleitung findet in enger Zusammenarbeit und nach Absprache mit den zuständigen Jugendämtern statt.
Maren Müller-Erichsen, die Aufsichtsratsvorsitzende der Lebenshilfe, berichtete über die Historie, insbesondere die der Begleitenden Elternschaft. In 40 Jahren hätten sich »wahnsinnig viele Veränderungen« ergeben. Ambulantes, inklusives und alleine Wohnen für kognitiv behinderte Menschen habe sich nur langsam entwickelt. »Und Männlein und Weiblein zusammen? Da gab es noch Bedenken.« In einer Etage seien die Männer untergebracht worden, in einer anderen die Frauen. »Dann ist es doch anders gekommen.«
Eine Groß-WG und 22 Wohnungen
Sexualität sei damals »noch nicht auf dem Schirm« gewesen. »Auch von der Lebenshilfe-Bundesvereinigung kam nichts oder nur ganz wenig.« Damals habe es geheißen, dass Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung keine Sexualität hätten. »Dies war absurd.« Oftmals seien solche Jugendliche sterilisiert worden. Viele Eltern hätten diesen Weg gesucht. »Wenn mir später Frauen erzählten, dass sie deshalb keine Kinder kriegen, hat mich das sehr betroffen gemacht.« Erst 1992 sei in einem neuen Betreuungsgesetz geregelt worden, dass ohne persönliche Zustimmung des Betroffenen keine Sterilisation mehr durchgeführt werden dürfe.