Inklusions-WG sucht Mitbewohner

Am alten Flughafen leben Menschen mit und ohne Beeinträchtigung in einer Wohngemeinschaft zusammen. Sie gestalten ihren Alltag gemeinsam und inklusiv, sind füreinander da, können aber auch ihre Zimmertür schließen, um ihre Ruhe zu haben. Nun suchen sie zwei neue Mitbewohner.
Wie in jeder Wohngemeinschaft gibt’s auch in der WG am alten Flughafen Stress - weil zum Beispiel die Mitbewohner abends im Wohnzimmer mal wieder zu laut quatschen, während andere schon im Bett liegen. Gleichzeitig ist da so viel Herzlichkeit und Dankbarkeit, weil diese Gemeinschaft einigen der Mitbewohner bei einem selbstbestimmten Leben hilft. »Eine Mitbewohnerin hat mir gesagt, sie sei froh, hier zu wohnen und Freunde gefunden zu haben«, sagt Agnes Putz. Die 20 Jahre alte Studentin lebt seit fast einem Jahr in der von der Lebenshilfe getragenen inklusiven WG am Stolzenmorgen. Dort bestreiten aktuell vier Menschen mit und vier ohne Beeinträchtigung ihren Alltag gemeinsam. Sie zeigen, dass ein Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung selbstverständlich sein kann. Nun suchen sie zwei weitere Mitbewohner.
Das Areal am Stolzenmorgen gleicht einem neuen Stadtteil - so groß ist die Dimension der Neubauten auf dem Gelände des alten Flughafens. Hier schießen Unternehmen und Wohnungen wie Pilze aus dem Boden. Auch die Lebenshilfe hat im vergangenen Jahr ein Gebäude für 20 Jahre als Ankermieter übernommen. Dort gibt es eine Ganztagsbetreuung für Kinder, Wohnungen für Singles und Paare sowie die inklusive WG.
Olivia Merget ist seit einigen Monaten eine der »Mitbewohnis«, wie sie sich selbst nennen. »Ich habe eine Reportage über inklusive WGs gesehen und daraufhin im Internet nach solchen Angeboten in Gießen gesucht«, erzählt die 25 Jahre alte Studentin. Ihre 23-jährige Mitbewohnerin Lea Stiebich will später beruflich mit Menschen mit Beeinträchtigung arbeiten. Auch deshalb hat sich die Studentin bewusst für diese Wohnform entschieden. Genauso wie Max Wolf, der im Rollstuhl sitzt. Früher, erzählt er, habe er alleine gewohnt - in keinem guten Umfeld. »Da hat mir die Kommunikation und die Gesellschaft gefehlt«, sagt er. In der barrierefreien WG am Flughafen sei er genau richtig.
Die WG hat eine Gemeinschaftsküche und ein geräumiges Wohnzimmer. Es gibt zehn Appartements, wobei sich jeweils zwei Personen ein Bad sowie einen kleinen Vorraum mit Küchenzeile teilen. Fast alle Zimmer haben einen Balkon. Außerhalb der WG gibt es ein Büro, in dem rund um die Uhr eine der drei pädagogischen Fachkräfte der Lebenshilfe oder Nebenamtliche arbeiten und ansprechbar sind.
Auch wenn es hier natürlich die üblichen Alltagsprobleme gibt, die sich eben ergeben, wenn Menschen zusammenwohnen, ist diese WG doch so etwas wie ein sicherer Hafen - frei von Diskriminierung gegenüber Behinderungen zum Beispiel. Der älteste Bewohner ist in der 50ern, die anderen zwischen 20 und 30 Jahre alt. Es gibt Bewohner, die sind körperlich fit, brauchen aber in anderen Bereichen Hilfe, weil sie zum Beispiel verbal eingeschränkt sind. Andere sitzen im Rollstuhl.
Mietfreies Wohnen gegen Hilfseinsätze
Von den Mitbewohnern ohne Beeinträchtigung werden sie in ihrem Alltag unterstützt, aber nicht den ganzen Tag begleitet. Denn die Bewohner arbeiten zum Teil oder gehen in die Universität. Es geht vielmehr um einen Abend pro Woche mit anschließendem Frühdienst am nächsten Morgen sowie um ein Wochenende pro Monat. »Das ist das Mindestmaß an Zeit, die man auch in jeder anderen WG fürs Zusammenleben aufbringen muss«, sagt Putz. Dieses Zurhandgehen ermöglicht den Menschen mit Beeinträchtigung ein autonomes, selbstbestimmtes Leben - und eine Teilhabe am Alltag, die selbstverständlich sein sollte.
Die Dienste unter der Woche beinhalten unter anderem Kochen mit einem festen Mitbewohner mit Unterstützungsbedarf, den Haushalt und Einkäufe. In Ausnahmesituationen können pflegerische Tätigkeiten anstehen. Für ihren Einsatz müssen die Bewohner ohne Unterstützungsbedarf keine Miete zahlen; das Modell nennt sich »Wohnen gegen Hilfe«.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Bei der WG handelt es sich nicht um eine Betreuungseinrichtung, wie Stiebich betont, sondern schlicht und ergreifend um eine WG. In der zugegebenermaßen viel los ist. Denn neben den Bewohnern gehen hier Verwandte, Freunde, Personal der Lebenshilfe oder der ambulante Pflegedienst ein und aus. Aber wozu hat man sein Zimmer, wenn man seine Ruhe haben will?
Fragt man die vier Mitbewohner, was sie an der WG besonders mögen, nennt Wolf sofort das »schöne Miteinander«. Für Stiebich sind es die »Zwischenmomente«, wenn im Wohnzimmer Musik läuft und alle spontan dazu tanzen. Merget liebt die »verquatschten Abende«. Und alle mögen den familiären Charakter der WG, dieses Zuhause-Gefühl, das sie empfinden.
Dies alles zeigt: Diese Wohngemeinschaft am alten Flughafen ist alles - nur keine Zweck-WG.