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»Inklusion muss im Kopf stattfinden«

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Folgt ein Sehbehinderter dem weißen Leitstreifen, landet er zu Zeiten des Weihnachtsmarktes oft in einer Imbissbude oder einer Wagendeichsel - und kann sich dabei verletzen. © Red

Gießen (ige). Antworten zur Barrierefreiheit in Stadt und Landkreis Gießen geben und konkrete Verbesserungen artikulieren sollten Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher und Landrätin Anita Schneider im Bürgerhaus Wieseck. Eingeladen zu der Veranstaltung hatte die Arbeitsgemeinschaft der Menschen mit Behinderungen im SPD-Unterbezirk Gießen (»AG Selbst aktiv«).

Vorsitzender Patrick Hoffmann und seine Stellvertreter Ralf Prager und Jürgen Gottstein hatten eine Reihe von Fragen vorbereitet. Auch von den Teilnehmern gab es zahlreiche Wortmeldungen.

Als die Sprache auf »viele Arztpraxen ohne Barrierefreiheit« kam, sagte Becher: »Es wäre gut, eine Plattform zu schaffen, wo alle Ärzte diesbezüglich gelistet sind.« Schneider meinte: »Inklusion bedeutet, dass das im Kopf stattfinden muss. Ich weiß nicht, ob das bei jedem Arzt so ist.«

Dieter Nübel beklagte, dass beim Gießener Weihnachtsmarkt der Kirchenplatz mit Holzspänen abgedeckt sei: »Darauf kann ich mich mit meinem Rollstuhl nicht bewegen.« Im nächsten Februar wolle man sich allerdings zusammensetzen, um alle Weihnachtsmarkt-Problematiken zu bereden, verkündete Becher.

OB: Theater-Aufzug ist ein »Muss«

Darin schloss er auch die erneut für sechs Wochen von Buden zugestellten Blindenleitspuren ein sowie die zahlreichen Kabelbrücken, die für Rollstuhlfahrer beim Überqueren ständig eine erneute Herausforderung bedeuten.

Nichts getan habe sich beim Thema Aufzug am Bahnhof und am Stadttheater. Zum Theater sagte Becher: »Wir haben vor wenigen Wochen zusammengesessen, bereiten eine Machbarkeitsstudie vor, wie wir barrierefreien Zugang schaffen können.« Dem Denkmalschutz, der beteiligt werden müsse, sei bisher noch nichts vorgelegt worden. »Das ist ein absolutes Muss. Das Thema ist unterwegs. Der Aufgabe wollen wir uns stellen«, sagte Becher.

Im kommenden Jahr ist Gießen Gastgeberstadt für mehr als 100 Personen von der Elfenbeinküste, die anschließend zu den Special Olympics World Games nach Berlin weiterziehen. Becher erhofft sich davon, dass das Thema Inklusion stärker im Bewusstsein verankert wird. »Von dem Fördergeld können wir auch rolligerechte Kabelüberbrückungen und Wippen unter freiem Himmel für Rollis anschaffen.«

Rollstuhlfahrer Nübel beklagte: »Ich finde es toll, dass in der Plockstraße neue Lokale und Läden entstanden sind. Nur komme ich da mit meinem Rollstuhl nicht hinein.« Nur für Neu- und Umbauten, bei denen eine Baugenehmigung erforderlich sei, könne die Stadt Barrierefreiheit durchsetzen, lautete die Rückmeldung.

Auch noch nicht geschaffen hat die Stadt einen barrierefreien Zugang zur Bühne des Hermann-Levi-Saales im Rathaus. Besprochen wurden auch die geringe Anzahl von behindertengerechten Toiletten, insbesondere an Sonn- und Feiertagen in öffentlichen Gebäuden, barrierefreie Wohnungsbauten und Bushaltestellen. Bei der derzeitigen Ausbaugeschwindigkeit der Stadt Gießen würden noch Jahrzehnte ins Land gehen, bis auch die letzte Haltestelle barrierefrei sein wird, lautete die Kritik. Einigkeit herrschte zum Abschluss darüber, dass bei der Einstellung von gesunden gegenüber behinderten Menschen die »Minderwertigkeit aus den Köpfen verschwinden muss«.

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