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Infektiologin aus Gießen zu Corona-Pandemie: »Entwarnung kann leider nicht gegeben werden«

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Von: Kays Al-Khanak

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Das Lahnuferfest in Gießen: Tausende Menschen drängen sich zwischen der Sachsenhäuser Brücke und der Konrad Adenauer Brücke und feiern - als ob es nie eine Pandemie gegeben hätte. © Harald Friedrich

Mitten im Sommer steigen die Inzidenzen wieder an. Die Gießener Infektiologin Susanne Herold nennt die Gründe für die steigenden Infektionszahlen und spricht über den aktuellen Forschungsstand.

Frau Prof. Herold, Tausende feiern auf Festivals oder auf dem Lahnuferfest dicht an dicht, in den Supermärkten werden die, die Masken tragen, immer weniger. Man hat den Eindruck, die Pandemie war sowas von gestern. Dem ist aber nicht so, oder?

Leider ist es nicht so. Wir haben derzeit, auch in unserem Landkreis, eine hohe und weiter steigende 7-Tage-Inzidenz, die im Übrigen aufgrund des reduzierten Testens deutlich unterschätzt wird und in Wirklichkeit wohl wesentlich höher liegt als angegeben. Eine »Entspannung« wie in den letzten beiden Sommern hat es in diesem Sommer so nicht gegeben. Der Grund hierfür ist, dass wir es mit den derzeit zirkulierenden Omikron-Varianten mit einem besser an den Menschen angepassten und damit infektiöseren Virus zu tun haben als zuvor zum Beispiel mit den Delta-Varianten, es gleichzeitig aber kaum noch verpflichtende Maßnahmen zur Reduktion von Ansteckungen gibt.

Es scheint weniger schwere Erkrankungen zu geben.

Das ist richtig. Deshalb werden die hohen Inzidenzwerte noch toleriert. Dies hat damit zu tun, dass durch die hohe Anzahl an abgelaufenen Infektionen, aber vor allem durch wiederholtes Impfen eine deutlich bessere Immunität in der Bevölkerung vorhanden ist, die viele Menschen effektiv vor schwereren Infektionen schützt. Außerdem können wir COVID-19 besser medikamentös behandeln. Dies führt dazu, dass wir in den Krankenhäusern nicht mehr so viele schwere Verläufe wie in früheren Infektionswellen sehen - trotz der hohen Inzidenzen. Aber man muss leider auch sagen: Wir und andere Kliniken sehen in den letzten Wochen eine langsam, aber stetig steigende Belegung mit COVID-19-Patienten, vor allem bei Risikopatienten und Ungeimpften auch schwerere Erkrankungsverläufe.

Infektiologin Susanne Herold aus Gießen: „Das Virus an sich ist also nicht viel weniger gefährlich“

Omikron-Subtypen wie BA4 und BA5 sind auf dem Vormarsch. Was ist über sie bekannt?

Omikron-Varianten unterscheiden sich untereinander nicht mehr so deutlich. Man geht davon aus, dass man sich mit BA4 und BA5 noch etwas leichter infiziert als mit den Vorvarianten der Omikron-Linie. Dies liegt vor allem daran, dass sie durch neue Mutationen noch etwas besser der Antikörpererkennung entgehen können, deshalb setzen sie sich eben auch durch. Wir beobachten hier eine stetige Evolution des Virus im Sinne der Anpassung an den Menschen vor allem im Hinblick auf Immunflucht. Es wird häufig gesagt, die Omikron-Varianten seien weniger gefährlich. Das ist wahrscheinlich strenggenommen nicht so. Die geringere Krankheitsschwere liegt weniger am Virus, sondern daran, dass die meisten Menschen, die ein Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf haben, mehrfach geimpft sind, und neben Antikörpern eine gute Immunzell-vermittelte Abwehr haben. Wenn man in den letzten Wochen nach China geblickt hat, gab es dort genauso schwere Verläufe mit den Omikronvarianten wie zuvor mit den Vorläufer-Varianten. Das lag daran, dass dort die Impfrate sehr niedrig ist. Das Virus an sich ist also nicht viel weniger gefährlich. Aber wir haben mit dem wiederholten Impfen gegengesteuert, und die jetzt zunehmende Durchseuchung kommt hinzu.

Also kein Grund zur Entwarnung?

Nein, wirkliche Entwarnung kann leider nicht gegeben werden. Wenn wir mit den Inzidenzen, die wir jetzt im Sommer schon haben, in den Winter gehen, wird man wieder Maßnahmen treffen müssen. Dies versucht die Politik derzeit anzubahnen.

Was bedeuten diese Varianten für Geimpfte und Genesene?

Die Omikron-Kladen sind klassische Immun-Escape-Varianten. Das bedeutet de facto: Man kann sich anstecken - auch als Mehrfachgeimpfter. Man ist damit aber trotzdem vor schweren Verläufen geschützt. Denn Impfen macht viel mehr, als nur Antikörper zu generieren, die quasi als erste Verteidigungslinie vor einer Infektion schützen. Hinzu kommt eine durch die Impfung induzierte T-Zellen-Immunität. Diese verhindert, dass sich das Virus weiter ausbreitet und zu einer schweren Erkrankung führt.

Es gibt auch Ausnahmen.

Das sind häufig Risikopatienten, deren Immunantwort aufgrund verschiedener schwerer Grunderkrankungen, immunsuppressiven Therapien oder wegen ihres Alters nicht mehr so gut ist oder schneller wieder abklingt und die dann eben doch wieder gefährdet sind, schwer zu erkranken.

Infektiologin Susanne Herold aus Gießen: „Nicht abwarten, bis angepasste Impfung zur Verfügung steht“

An frühere Omikron-Varianten angepasste Impfstoffe soll es ab Herbst geben. Sollten Betroffene bis dahin warten?

Es kommt darauf an, zu welcher Risikogruppe man gehört. Wer ein hohes Risiko für einen schweren Verlauf hat, sollte jetzt nicht die Sommermonate abwarten, bis die angepasste Impfung zu Verfügung steht. Sie ist zwar für September angekündigt, das bedeutet aber nicht, dass sie in großer Menge verimpft werden kann. Es ist auch nicht ganz klar, wie effektiv sie vor den dann zukünftig zirkulierenden Varianten schützen wird. Sie und ich, die also keiner Risikogruppe angehören, können bis Herbst warten. Das ist aber individuell zu betrachten und sollte auch mit dem Hausarzt besprochen werden. Ich habe einige Patienten gesehen, die bis Jahresende mit der Viertimpfung, dem zweiten Booster, warten wollten, und dann trotz dreifacher Impfung hospitalisiert werden mussten. Die Immunantwort nimmt drei bis sechs Monate nach dem Impfung, gerade bei Älteren, wieder ab.

Wie plant das UKGM für den Herbst?

Die meisten Patienten mit COVID-19 wurden in der Klinik für Infektiologie behandelt. Ich denke nicht, dass wir so viele Intensivpatienten werden versorgen müssen, wie in der ersten Winterwelle. Wir müssen uns aber natürlich vorbereiten, weil es mehr Patienten, auch im Nicht-Intensivbereich, geben wird. Wir sind aber mittlerweile durchaus trainiert in diesem Prozess, wir haben das mehrfach durchexerziert, und sind in der Lage, mehr Bettenkapazität zu schaffen, falls das nötig wird. Solche Pläne liegen in der Schublade und können jederzeit herausgeholt werden.

Was ist sinnvoll, damit wir auf Wellen im Herbst und Winter vorbereitet sind?

Wir wissen ja, was funktioniert: die AHA-Regeln, Maske tragen, das Testen und Isolation. Ich denke, dass die Politik so rasch wie möglich eine Gesetzesgrundlage schaffen muss, die diese Maßnahmen ermöglicht, falls sie notwendig werden. Kostenloses Testen für jeden gehört sicher dazu - schon jetzt. Die Pläne müssen jetzt auf den Weg gebracht werden und nicht wieder erst dann, wenn wir der Situation hinterherlaufen.

Das Virus entwickelt sich ja rapide schnell weiter.

Ja, hohe Inzidenzen, wie sie derzeit in vielen Ländern toleriert werden, führen eben auch dazu, dass das Virus die Möglichkeit hat, sich ständig weiterzuentwickeln und besser anzupassen, das heißt, dem Immunsystem besser zu entgehen. Damit stellt sich die Frage, welche Variante uns im Herbst treffen wird. Es ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber es kann sein, dass es dann eine Virus-Variante gibt, die wieder etwas aggressiver ist .

Infektiologin Susanne Herold aus Gießen: „Es gibt weiterhin viel Forschungsbedarf“

Wie ist der Stand bei der Medikamentenentwicklung gegen das Coronavirus? Gibt es bald Aspirin gegen Covid-19?

Es gibt drei Säulen der Behandlung. Da sind die Antikörpertherapien, die mittlerweile nicht nur im Rahmen einer Infektion, sondern auch präventiv bei Patienten ohne ausreichende Impfantwort eingesetzt werden. Das sind schwer immunsupprimierte Patienten, zum Beispiel nach Organtransplantation. Die Patienten können sie prophylaktisch als sogenannte Präexpositionsprophylaxe zum Beispiel in unserer Antikörperambulanz erhalten. Dabei handelt es sich um Antikörper, die einmal verabreicht werden und dann mehrere Monate lang schützen. Das Problem ist: Wenn es eine neue Immunflucht-Variante gibt, kann es sein, dass diese Antikörper nicht mehr so gut wirken. Deshalb haben wir Generationen verschiedener Antikörperpräparate nach und nach angewendet, weil wir auf eine neue Varianten-adaptierte Neuentwicklung solcher Präparate setzen mussten.

Und die weiteren Säulen?

Deutliche Weiterentwicklungen gab es bei den antiviralen Medikamenten, also denen, die direkt gegen das Virus gerichtet sind. Zwei davon kann man als Tabletten einnehmen: Ein Kombinationspräparat, bekannt unter dem Namen Paxlovid, und Molnupiravir. Hinzu kommt Remdesivir, das intravenös als Infusion anwendbar ist. Alle drei Medikamente setzen wir ein. Bei schweren COVID-Erkrankungen verabreichen wir Präparate, die die schwere Entzündung unterbinden, zum Beispiel Cortisonpräparate. Damit haben wir relativ gute Erfolge erzielt. Aber so weit wollen wir es nicht kommen lassen.

Die anderen Präparate müssen aber früh zum Einsatz kommen.

Ja, Antikörper und antivirale Medikamente sollen so früh wie möglich im Infektionsverlauf gegeben werden, damit sie überhaupt wirksam sind. Denn wenn das Virus den Höhepunkt seiner Vermehrung im oberen Atemtrakt erreicht hat, kann man es dadurch nicht mehr ausbremsen. Diese Medikamente haben sicherlich den einen oder anderen Verlauf abgemildert oder verkürzt. Sie sind aber nicht das Ende der Fahnenstange und kein Aspirin gegen Covid. Es muss also noch viel in Forschung investiert werden, um neue Medikamente oder Medikamentenkombinationen zu entwickeln, die an verschiedenen Punkten angreifen: am Virus selbst, und an der Antwort des Immunsystems. Auch wir forschen weiterhin intensiv an dieser Frage und unternehmen klinische Studien auf der Grundlage der Erkenntnisse, die wir im Labor bereits geschaffen haben - in Foschungsverbünden wie der Klinischen Forschergruppe 309, dem Deutschen Zentrum für Lungenforschung und den Sonderforschungsbereichen.

Was Sie sagen, klingt ja jetzt erstmal doch ganz ermutigend.

In diesem Bereich hat sich einiges getan, aber es gibt weiterhin viel Forschungsbedarf. Wirksame antivirale Medikamente gegen akute Infektionen zu entwickeln, ist oftmals dadurch erschwert, dass man sie sehr früh im Verlauf geben muss, um ausreichende Effektivität zu erreichen. Deshalb ist unsere Strategie, zusätzlich die antivirale Immunabwehr in lokalen Immunzellen und im Gewebe zu verbessern und dabei Mechanismen zu nutzen, die gleichzeitig auch die Regeneration des geschädigten Gewebes beschleunigen. (Interview: Kays Al-Khanak)

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