Im Zweifel für den Angeklagten

Gießen (bac). Manche Gerichtsprozesse enden komplett anders als sie begannen, so auch das Verfahren gegen einen 23-jährigen Somalier, der wegen versuchten Raubs und räuberischer Erpressung angeklagt war. Am Ende eines langen zweiten Verhandlungstags gab es derartig viele Versionen der Tathergänge, dass weder das Gericht noch die Staatsanwaltschaft wussten, was sich wirklich zugetragen hat, sodass das Urteil letztlich nur Freispruch lauten konnte, ganz nach dem Grundsatz:
»in dubio pro reo - im Zweifel für den Angeklagten«.
Die Staatsanwaltschaft warf ihm zwei Vorfälle vor, die sich im Januar und Februar dieses Jahres ereignet haben sollen. Laut Anklage soll der Somalier sich mit einem Bekannten in der Galerie Neustädter Tor, in der Nähe eines Geldautomaten, gestritten und von ihm Geld gefordert haben. Bei der Auseinandersetzung soll er ein Messer gezückt und damit seinem Bekannten an der rechten Hand eine tiefe Schnittwunde zugefügt haben. Das ist Fakt, die Schnittwunde gibt es, nur wie sich alles zugetragen hat, darüber gibt es sehr unterschiedliche Aussagen von dem Opfer und weiteren Zeugen.
Zum einen soll sich der Vorfall angeblich gar nicht in der Galerie Neustädter Tor ereignet haben, sondern in der Wohnung des Vaters des Opfers, der allerdings in unmittelbarer Nähe der Galerie wohnt. So schilderte der Vater des Verletzten., dass der Angeklagte vorher bei ihm zu Gast gewesen sei. Dann sei er gegangen, um zweimal zurück zu kehren, da er sein Mobiltelefon vermisst habe. Bei dritten Mal sei es dann zu der Schnittverletzung seines Sohnes gekommen. Zum genauen Tathergang - ob es eine Bedrohung gab oder möglicherweise eine Notwehrsituation - gab es ebenfalls unterschiedliche Äußerungen.
Bei der zweiten Tat soll der Angeklagte die Tür zu der Wohnung eingetreten haben, um zehn Euro von dem Vater zu fordern. Nachdem ein Dritter, der ebenfalls als Zeuge aussagte, ihm das Geld gegeben habe, sei er gegangen. Da allerdings bei der Polizei ausgesagt worden war, dass der Angeklagte da ebenfalls ein Messer und eine Flasche in der Hand gehabt habe, lautete die Anklage auf räuberische Erpressung. Nur war bei dem zweiten Verhandlungstag auf einmal von dem Messer keine Rede mehr, beide Zeugen, die ebenfalls aus Somalia stammen, sagten nun nur noch aus, dass der Angeklagte »irgendwie« mit der Bierflasche herumgefuchtelt hätte. Auf die mehrmaligen Rückfragen des Gerichts und der Staatsanwaltschaft, warum sich nun die Aussagen so eklatant von denen bei der Polizei unterscheiden würden, wiederholten alle Zeugen, dass dies nun die Wahrheit sei. Warum es anders bei der Polizei protokolliert worden sei, konnten sie sich überhaupt nicht erklären und verwiesen auf eine mögliche Inkompetenz der Dolmetscherin hin. Auch als der Richter sie auf die Auswirkungen einer Falschaussage hinwies, blieben sie bei ihren geänderten Aussagen.
Daraufhin wurden der Vater des Geschädigten und ein weiterer Zeuge vereidigt. Die Staatsanwaltschaft prüft nun, ob sie ein Verfahren wegen Falschaussage in die Wege leiten wird.