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Gießens Bürgermeister Wright: »Ich will das Autofahren nicht verbieten«

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Von: Burkhard Möller

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Seit einem Jahr ist Bürgermeister Alexander Wright in Gießen im Amt. Im Interview spricht der Grünen-Politiker über Veränderungen, die er anstrebt.

Gießen – Wohl selten zuvor hat ein neuer Dezernent innerhalb so kurzer Zeit so viele gravierende Veränderungen herbeigeführt wie Bürgermeister Alexander Wright. Seit genau einem Jahr ist der Grünen-Politiker in Gießen im Amt. Er ist für viele wichtige Dinge zuständig, im Fokus der Öffentlichkeit steht aber vor allem seine Verkehrspolitik.

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Seit einem Jahr ist das Rathaus sein Arbeitsplatz: Bürgermeister Alexander Wright. © Oliver Schepp

Herr Wright, Sie sind in der Fassenacht in die Bütt gegangen. Wollten Sie proaktiv Witze über den Verkehrsversuch machen?

Ich habe auch Witze über den Verkehrsversuch gemacht. Gereimte sogar. Ein bisschen Spaß muss sein.

Erzählen Sie mal einen.

»Duften wird der Verkehrsversuch, statt Abgas gibt es Schweißgeruch.«

Sie sind jetzt ein Jahr im Amt und haben insbesondere im Verkehrsbereich Veränderungen herbeigeführt, die viele Menschen in ihrem Alltag betreffen. Was kommt bei Ihnen an Reaktionen an?

Alles. Lob, Kritik, Anregungen. Ein Paradebeispiel dafür war die Beendigung des Gehwegparkens in der Wilhelmstraße. Da kam auch alles an Reaktionen, aber der Tenor derjenigen, die da wohnen, war überwiegend positiv. Dass die Fußgänger endlich mehr Platz haben, wurde begrüßt. Es gab auch den Wunsch, wir sollten das auch in dem Abschnitt ab der Ludwigstraße machen. Zu der Maßnahme habe ich dann einen Post auf meinem privaten Facebook-Account gemacht, daraufhin gab es einen kleinen Shitstorm. Viel zu eng alles, man kann da nicht mehr parken und so weiter. Es ist beim Thema Verkehr generell eine große Bandbreite von »Endlich tut sich was« über »Es muss noch viel mehr getan werden« bis »Die Stadt geht den Bach runter«.

Verkehr ist ein Thema, das unglaublich polarisiert, gerade in den sozialen Medien. Ihre Maßnahmen lösen da regelmäßig einen Schwall an Kritik aus, auch mit beleidigenden Äußerungen. Verfolgen Sie das?

Wenn ich das machen würde, käme ich nicht mehr zu etwas anderem. Soziale Netzwerke wie Facebook sind ja so gebaut, dass extreme Meinungen aufeinanderprallen. Ich stelle aber immer wieder fest, dass sich die Debatte sofort versachlicht und konstruktiv sowie respektvoll geführt wird, wenn man mit den Leuten persönlich spricht, am besten vor Ort, so wie beim Ortstermin in der Roonstraße.

Gießener Bürgermeister Alexander Wright zur Verkehrspolitik befragt

Zurück zum Verkehrsversuch am Anlagenring. In einer Ausschusssitzung sagten sie: »Es wird kein Chaos geben.« Was macht Sie da so sicher?

Diese Aussage bezog sich auf die Phase, wenn sich die neue Verkehrsführung herumgesprochen hat. Die ersten Wochen, wenn wir umstellen, wird das natürlich schwierig und eine chaotische Phase werden. Aber danach, davon bin ich überzeugt, wird das funktionieren. Seit ich hier im Amt bin, sind wir dabei, das zu planen. Wir haben jeden Knoten untersucht und Simulationen der Verkehrssituation durchgeführt, die im Hintergrund jetzt noch mitlaufen. Es wird Stockungen auf dem Anlagenring geben, das haben die Gutachter gesagt. Sie haben auch gesagt, dass die Situation, so wie sie jetzt ist, wenn es nicht gerade Baustellen gibt, für den Verkehrsfluss sehr gut ist. Und so, wie sie beim Verkehrsversuch sein wird, für eine Stadt von der Größe Gießens, immer noch ausreichend gut sein wird. Die Sichtweise, man braucht nicht mehr nach Gießen reinfahren, wenn der Versuch erst mal läuft, ist definitiv falsch. Es wird kein Vollchaos geben.

Es wird auch entscheidend darauf ankommen, ob die Radspuren angenommen werden. Von vielen Alltagsradlern hört man die Aussage: Den Anlagenring brauche ich nicht.

Das hört man auch bei anderen Radwegeprojekten, aber wenn neue Wege zur Verfügung stehen, werden sie auch genutzt. Wir konnten das vor der Kongresshalle sehen, als die Bushaltestelle umgebaut wurde. Wir haben über den Berliner Platz eine Pop-up-Spur für den Radverkehr durch die Baustelle geführt. Der Radverkehr hat sofort zugenommen. Jetzt, wo der Radverkehr wieder mit dem Autoverkehr fließt, ist es weniger geworden. Viele fahren wieder ihre Umwege, die ihnen sicherer erscheinen. Wir werden beim Verkehrsversuch sehen, dass die Radfahrer von ihren konfliktreichen Parallelrouten zum Anlagenring wie zum Beispiel der Johannesstraße auf die Radspuren auf der Südanlage wechseln werden.

Werden Sie den Radverkehr zählen?

Das haben wir vor. Schon allein, um dem Urteil vorzubeugen, da fährt doch niemand. Autoverkehr sieht immer mehr aus, weil er mehr Raum einnimmt, aber tatsächlich relativ wenig Personen transportiert, weil in den Fahrzeugen meistens nur eine Person sitzt. Radverkehr wird dagegen als dünn wahrgenommen, wenn er einzeln und nicht in Gruppen stattfindet. Dieser Eindruck täuscht aber.

Ist denn mittlerweile klar, dass der Versuch im Frühsommer starten wird?

Ja, das steht fest. Wir werden mit einigen Baumaßnahmen schon im April beginnen, Bordsteinabsenkungen zum Beispiel. Wir wollen auch am Fina-Parkhaus eine Verbesserung für Fußgänger erreichen und den Fußweg, der dort unterbrochen ist, von der Bushaltestelle bis zum Seltersweg durchbinden.

Gießens Bürgermeister Alexander Wright spricht über Auto- und Fahrradverkehr

Eine große Veränderung ist die Fahrradzone in der Neuen Bäue mit der Durchfahrtsperre zum Brandplatz. Das ist Verkehrslenkung unter Anwendung der Straßenverkehrsordnung, im Stadtparlament wird das gar nicht diskutiert. Sie kommen selbst aus dem Parlament. Kommt Ihnen das selbst nicht komisch vor?

Da muss ich widersprechen. Diese Maßnahme beruht auf einem Stadtverordnetenbeschluss aus dem März 2021, wonach zwei Fahrradachsen durch die Innenstadt ausgewiesen werden sollen. Auch mein CDU-Vorgänger Herr Neidel wollte in der Neuen Bäue eine Fahrradstraße ausweisen, aber die Voraussetzungen dafür waren nicht erfüllt, weil es dort zu viel Autoverkehr gab. Also haben wir geschaut, wie wir den Parksuchverkehr reduzieren können. Die Schranken waren dann ein Vorschlag der Straßenverkehrsbehörde, um den Brandplatz von der anderen Seite zu erschließen. Dass ich damit eine Debatte »abgeräumt« habe, die schon vor über 30 Jahren geführt wurde, war mir nicht bewusst. Da war ich fünf Jahre alt (lacht). Es hat sich gezeigt, dass eine deutliche Verkehrsberuhigung eingetreten ist. Die Situation in der Neuen Bäue und Schulstraße vorher war unhaltbar geworden.

Die Ausdehnung der Parkgebührenpflicht bis 22 Uhr und auf den Sonntag in der Innenstadt war aber nicht Bestandteil einer Beschlusslage.

Auch was das Parken betrifft, haben wir die Veränderungen in der Koalitionsvereinbarung im Sommer 2021 skizziert. Wir wollen erreichen, dass der Parksuchverkehr weniger wird und die Leute in die Parkhäuser fahren, auch abends. Es gibt Beschwerden von Innenstadtbewohnern, dass dieser Verkehr auch abends zugenommen hat. Man sieht es in der Johannesstraße, man sieht es am Brandplatz.

Ist es in diesem Fall nicht auch eine Frage des Zeitpunkts? Die Gastronomie hat mit 2020 und 2021 harte Jahre hinter sich, nun die Inflation. Jetzt kommen auf die Restaurant-Rechnung noch sechs oder neun Euro Parkgebühr drauf, wenn man zwei oder drei Stunden Zeit in der Innenstadt verbringt.

Der Zeitpunkt für solche Maßnahmen ist immer schlecht. Was kommt nächstes Jahr? Wie ist die Lage dann? Sie haben in einer Kommentierung die soziale Frage gestellt. Da frage ich: Ist es sozial, dass sich Leute, die sich ein mehr oder weniger teures Auto leisten können, abends kostenlos am Brandplatz parken? Öffentlicher Parkraum ist eine Infrastruktur, die instand gehalten werden muss. Wer zahlt das? Das zahlt die Allgemeinheit. Das zahlen auch Leute, die sich kein Auto leisten können oder wollen. Dass die, die die Parkplätze nutzen, auch einen Beitrag leisten sollen, ist meiner Meinung nach sozialer als das Angebot einfach kostenlos zur Verfügung zu stellen.

Lässt es Sie kalt, wenn eine Krankenschwester erklärt, dass sich Pflegepersonal diese Gebührenhöhe nicht leisten kann?

Wir haben diesen Einzelfall einer in Gießen lebenden Mitarbeiterin des Uniklinikums, der bei Ihnen in der Zeitung beschrieben war, mal nachvollzogen und festgestellt, dass der Stadtbus, in diesem Fall die Linie 2, zeitlich durchaus eine Alternative zum Auto ist, durch das Jobticket auch eine günstigere. Nichtsdestotrotz schauen wir, ob wir da eine noch bessere Anpassung der Fahrzeiten an den Schichtbeginn um 6 Uhr hinkriegen können. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es seit vielen Jahren Beschwerden aus dem Südviertel gibt, weil Beschäftigte des Klinikums in den Wohnstraßen parken, wo es nichts kostet. Der gebührenpflichtige Parkplatz ist da eher zweite Wahl. Wir haben hier ein Dilemma: Das UKGM kann den Parkplatzbedarf von Mitarbeitern, Patienten und Besuchern auf dem Gelände nicht decken, aber wir als Stadt können das im öffentlichen Straßenraum erst recht nicht.

Gießens Bürgermeister Alexander Wright zum Mobilitätsverhalten befragt

Ist Ihnen bewusst, dass Sie mit diesen Maßnahmen auf ein über viele Jahre gewohntes Mobilitätsverhalten treffen?

Ja klar. Das ändern Sie auch nicht von heute auf morgen. Das ist ein langer Prozess. Wer 60 ist und 30 oder 40 Jahre mit dem Auto zur Arbeit gefahren ist, der wird das auch bis zur Rente tun. Es gibt aber auch jüngere Leute, die nach Alternativen zum eigenen Auto suchen. Ich will das Autofahren nicht verbieten, sondern diese Alternativen wie ÖPNV und Fahrrad fördern, weil ein begrenzter Stadtraum wie in Gießen das Fahrzeugaufkommen kaum noch bewältigen kann. In den meisten Autos sitzt nur eine Person. Für die Innenstädte ist diese Form der Autonutzung allein aus Platzgründen ein großes Problem. Für den Stadtverkehr wäre schon viel gewonnen, wenn jeder zweite Weg nicht mit dem Auto zurückgelegt würde.

Haben Sie ein Auto?

Wir haben ein Auto, das ist auch auf mich angemeldet, aber hauptsächlich fährt es meine Frau. Sie arbeitet als Ärztin im ländlichen Raum. Sie hat es mal zwei Wochen lang mit dem Zug versucht, das hat sie dann aber aufgegeben. Die meiste Zeit steht es rum. Es ist also auch hauptsächlich ein Stehzeug.

Als Kämmerer sind Sie auch für die Stadtfinanzen zuständig. Nun ist ausgerechnet Ihrem ersten Haushalt die Genehmigung durch den Regierungspräsidenten versagt worden. Empfinden Sie das als persönliche Niederlage oder ärgert Sie das?

Als persönliche Niederlage empfinde ich das nicht. Es hat mich geärgert, weil unsere Haushaltslage objektiv gesehen gut ist. Die Verfügung des RP beschreibt den Umstand, dass wir unsere Haushalte im Entwurf schlechter planen als sie es im Ergebnis sind. Das hat etwas mit Vorsicht zu tun. Außerdem müssen wir im Haushalt unsere zukünftigen Vorhaben beschreiben, auch wenn wir längst nicht alle Projekte umsetzen können. Im Haushalt 2023 haben wir das schon deutlich reduziert, aber wir müssen bei unserer Investitionsplanung noch realistischer werden.

Wann rechnen Sie mit einer Genehmigung?

Moniert vom Regierungspräsidium wird ja hauptsächlich das Haushaltssicherungskonzept. Darin müssen wir darlegen, wie unser Defizit mittelfristig abgebaut werden kann. Das ist jetzt unsere Aufgabe. Ich bin zuversichtlich, dass wir in den nächsten Monaten eine Lösung hinbekommen werden.

Das Interview führte Burkhard Möller.

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