»Ich bin ständig unterwegs«

Vor einem Jahr endete nach zwölf Jahren die Amtszeit von Oberbürgermeisterin Dietlind Grabe-Bolz. Diese Vollbremsung hat die Ruheständlerin gut überstanden und schwärmt über ihr »neues Leben«. Das beginnt zwar auch jeden Morgen mit einem halbstündigen Check ihres Terminkalenders, aber was da drin steht, das bestimmt sie nun selbst.
Zwölf Jahre haben sie nebeneinander auf der Magistratsbank gesessen, da ist beim Wiedersehen im »Siebenkorn« am Ludwigsplatz eine Umarmung fällig. »Ich muss schnell was essen, wird lange heute«, sagt Stadträtin Gerda Weigel-Greilich. »Kommt mir bekannt vor«, antwortet Dietlind Grabe-Bolz lachend. An den Büroarbeitstag der Stadträtin werden sich am Abend noch vier Stunden anstrengende Ausschusssitzung anschließen. Ihre frühere Kollegin wird dann zu Hause sitzen und ein Buch lesen. »Heute Abend habe ich mal nichts vor«, sagt Dietlind Grabe-Bolz.
Ausnahmsweise. Ein Jahr nach ihrem Abschied aus dem Oberbürgermeisteramt hat sich Grabe-Bolz zwar aus dem politischen Leben komplett zurückgezogen, aber ihr Terminkalender ist noch immer voll. Wenn sie den morgens beim Frühstück durchgeht, hört sie von ihrem Mann Uli ab und an die Bemerkung: »Ist ja wie vorher.« Das stimmt aber nicht, denn die Jahre, in denen sie »fast alles« dem Amt an der Spitze der Stadt untergeordnet hat, sind vorbei. »Ich bin eigentlich ständig unterwegs, aber ich setze jetzt ganz andere Prioritäten - meine.«
Die Stadtpolitik, die sie in verschiedenen Funktionen seit Beginn der 1990er Jahre betrieben hat, gehört nicht mehr dazu. Zum Abstand, den die frühere SPD-Politikerin zum politischen Betrieb konsequent hält, musste sie sich nicht zwingen. Von Entzugserscheinungen oder dem Gefühl eines Bedeutungsverlusts keine Spur. »Ich hatte mal im Rathaus zu tun, da saß eine neue Mitarbeiterin am Empfang, die fragte mich: ›Suchen Sie etwas, kann ich Ihnen helfen?‹ Das war schon komisch«, erinnert sie sich an einen Moment, wo ihr deutlich geworden sei, wie schnell das Leben weitergeht.
Dass es der 65-Jährigen im Ruhestand nicht langweilig wird, ist keine Überraschung. Ihr Interesse an der Kultur und speziell der Musik ist ebenso bekannt wie ihr Drang, sich sportlich zu betätigen. Hinzu kamen in den letzten Jahren drei Enkel, heute im Alter von fünf, drei und einem Jahr. »Der ganz Kleine ist meiner«, erzählt sie und lacht.
Grabe-Bolz propagiert das lebenslange Lernen. Im Moment erlernt sie das Querflötenspiel erneut, um den Ansprüchen des multikulturellen oder des THM-Orchesters, in denen sie mitspielt, zu genügen. Mehr Zeit hat sie jetzt auch wieder für die Auftritte mit Fredrik Vahle. Zehn Stunden pro Woche kümmert sie sich noch bis Mai um die Kulturförderung des Landkreises. Da hat sich ein bisschen der Kreis geschlossen, denn ihr Büro befindet sich in der Kreisvolkshochschule in Lich, wo sie bis zur Übernahme des Gießener OB-Amts im Dezember 2009 Abteilungsleiterin war. Für den »Minijob« musste sie ihr letztes politisches Mandat im Kreistag aufgeben.
Kulturaffin und politikerfahren: Diese Attribute bescherten ihr auch die Anfrage, ob sie nicht Vorsitzende des Hessischen Literaturrats werden wolle. Nach zweiwöchiger Bedenkzeit sagte sie zu. Engagiert ist sie bei der Arbeiterwohlfahrt und dem Literarischen Zentrum Gießen. Wenn der SPD-Ortsverein Süd, wo alles angefangen hat, zur Mitgliederversammlung ruft, will sie nicht Nein sagen. »Das ist schließlich meine politische Familie.«
Vorsitzende des Literaturrats Hessen
Elder Stateswoman ist nicht ihr Ding. In der ersten Zeit nach der Amtsübergabe an Frank-Tilo Becher habe sie den ein oder anderen Rat gegeben, aber eigentlich sei das unnötig. »Man ist da von so vielen kompetenten Leuten umgeben, den Rat von Vorgängern braucht man eigentlich nicht.« Grabe-Bolz ist nicht der Typ, der ungebetene Ratschläge gibt. Sehr froh ist sie über die Amtsführung ihres Nachfolgers. »Das ist schon eine große Erleichterung, dass er so gut im Amt angekommen ist. Das hat es mir leichter gemacht, mich auch innerlich von dem Amt und der Verantwortung, die man spürt, zu verabschieden.« Hinzu kommt die Gewissheit, dass Herzensprojekte wie der Museumsumbau sichtbar weitergehen.
Als leidenschaftliche Zeitungsleserin und politischer Mensch folgt Grabe-Bolz allen Ereignissen, vom Ukraine-Krieg bis zum Konflikt um den Schwanenteich. Für das Anliegen der Bürgerinitiative hat sie Sympathie, das Bürgerbegehren unterschrieben hat sie trotzdem nicht. Ihr Grund: »Die Frage, welche Dammsanierung die richtige ist, kann ich fachlich nicht beurteilen.« Respekt zollt sie Bürgermeister Alexander Wright für die Umsetzung von verkehrspolitischen Maßnahmen wie der Einrichtung der Fahrradzone in der Neuen Bäue.
Über die nunmehr vollzogene Sperrung der Durchfahrt vom Kanzleiberg zum Brandplatz wurde schon gestritten, als Grabe-Bolz 1993 erstmals Stadtverordnete wurde. »Da ziehe ich schon den Hut davor, so etwas gegen viele Widerstände durchzusetzen.«
Allerdings hat sie auch noch einen anderen Blick auf die Dinge. Wenn sie erfährt, dass aus dem Baugebiet In der Roos in Rödgen nun wohl doch nichts werden wird, denkt sie zuerst an die Mitarbeiter im Rathaus, die über viele Jahre viel Arbeit in so ein Projekt gesteckt haben.
Über den Umstand, dass sie nach den Corona-Jahren und denen unter dem kommunalen Schutzschirm nicht auch noch die Ukraine-Krise mit ihren Folgen für die Energieversorgung, die Stadtwerke und die Flüchtlingsunterbringung in hoher politischer Verantwortung erleben muss, ist sie erleichtert. »Ich habe das Amt mit großer Leidenschaft ausgeübt, aber der Zeitpunkt aufzuhören, war genau richtig. Ich führe ein sehr zufriedenes, erfülltes und bereicherndes Leben«, sagt Grabe-Bolz.