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»Ich bin müde. Aber auch gestärkt«

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Von: Karen Werner

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So fing alles an: Kristina Hänel (vorn im hellgrauen Mantel) 2017 bei der Solidaritäts-Kundgebung vor ihrer Verurteilung zu 6000 Euro Geldstrafe am Amtsgericht Gießen. Die Kampagne der Ärztin für das Informationsrecht von Frauen zum Schwangerschaftsabbruch steht jetzt vor dem Ziel. ARCHIV © Oliver Schepp

»Werbung« für Abtreibung wird erlaubt: Nach fünf bewegten Jahren hat Kristina Hänel ihr Ziel erreicht. Im GAZ-Interview erklärt die Ärztin, warum die Debatte weitergeht und warum Gießen bald ein weißer Fleck werden könnte auf der Landkarte der Anbieter von Schwangerschaftsabbrüchen.

Frau Hänel, Sie haben Ihr Ziel erreicht: Die Streichung des Strafgesetzbuch-Paragrafen 219a steht wahrscheinlich bevor. Wie geht es Ihnen?

Mein Ziel war die Informationsfreiheit von Frauen. Ich bin froh, dass an dieser Stelle ein Fortschritt erreicht ist. Ich hoffe, dass Ärztinnen und Ärzte ihre Informationen jetzt auch wirklich ins Netz stellen und nicht aus Angst vor »Abtreibungsgegnern« darauf verzichten. Es ist in diesen fünf Jahren extrem viel passiert beim Bewusstsein, wo überall Handlungsbedarf besteht.

Haben die vergangenen fünf Jahre Sie eher gestärkt oder erschöpft?

Beides. Ich bin müde. Aber ja, auch gestärkt. Jetzt wird es Zeit, dass ich mich wieder anderen Dingen widme.

Sie sind zur Symbolfigur, zum Medienprofi und für manche zum Hassobjekt geworden. Wie hat diese Prominenz Sie verändert?

Ich glaube, weniger, als ich selbst befürchtet hatte. Außer dass ich mich daran gewöhnt habe, vor Kameras aufzutreten.

Werden Sie nach wie vor bedroht oder belästigt?

Ja. Aber es war klar, dass ich zur Zielscheibe verstärkter Angriffe werde, als ich so bekannt wurde.

Kommen mehr Patientinnen zu Ihnen, weil Sie bundesweit bekannt sind?

Ja. Wenn jemand für mich geworben hat, dann der Mann, der Anzeige gegen mich erstattet hat. Wir konnten den Frauen früher immer einen Termin in der gleichen Woche anbieten. Jetzt müssen sie oft zwei Wochen warten, obwohl wir viel mehr arbeiten. Das ist ein Drama. Es ist ja ein zeitkritischer Eingriff.

Vorerst unverändert bleibt der Paragraf 218, der Schwangerschaftsabbrüche verbietet, nur unter bestimmten Umständen straffrei lässt. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sagte dazu kürzlich bei Markus Lanz: Es wird neue Lösungen geben müssen. Steht das Abtreibungsrecht insgesamt auf dem Prüfstand?

Ja. Diese Debatte wird schon die ganze Zeit einerseits befürchtet, andererseits geführt. Die Missstände - die schlechte Versorgungslage, der Abbruch ist keine Kassenleistung - haben ja ganz viel mit dem Paragrafen 218 zu tun. Außerdem: Fast überall auf der Welt außer in Polen und Amerika erleben wir gerade eine Liberalisierung.

Bisher haben Sie und Ihre Unterstützerinnen sich kaum geäußert zum Paragrafen 218. Warum eigentlich nicht?

Mir ging es darum, den Punkt öffentlich zu machen, für den ich angegriffen wurde. Das grundlegende Thema beschäftigt mich schon mein ganzes Leben lang.

Bundestag stimmt am 24. Juni ab

Weil das Wort »Schwangerschaftsabbruch« auf ihrer Praxis-Homepage stand, wurde die Gießener Ärztin Kristina Hänel im Sommer 2017 von einem »Lebensschützer« angezeigt. Die jetzt 65-Jährige ging an die Öffentlichkeit und löste eine breite Debatte über den Strafgesetzbuch-Paragrafen 219a aus, der »Werbung« für Abtreibung verbietet. Am Freitag, 24. Juni, stimmt der Bundestag über die Streichung des Paragrafen ab. Hänels Verurteilungen zu Geldstrafen wären damit aufgehoben; ob ihre Klage vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt würde, ist noch unklar. 

Wie ist Ihre Position dazu?

Ich halte mich an die Weltgesundheitsorganisation. Sie fordert Deutschland auf, die Pflichtberatung und die Beratungsfrist abzuschaffen und Schwangeren den Zugang zu sicheren Abbrüchen zu gewährleisten.

Wer steht auf Ihrer Seite, wer blockiert?

Die Ampel-Koalition hat ja in ihrem Vertrag festgehalten, dass über das Thema diskutiert werden soll. Die FDP tut sich schwer, wohl weil sie ein erneutes Scheitern vor dem Bundesverfassungsgericht scheut. Klar, die Bremse ist die CDU und die AfD. Obwohl ich bei Veranstaltungen die Erfahrung mache, dass die Stimmung an der CDU-Basis eine ganz andere ist.

Sie haben eine bundesweite Pro-Choice-Bewegung ausgelöst. Es ist nicht die erste. Bei der »Stern«-Aktion »Ich habe abgetrieben« machten 1971 auch viele gar nicht betroffene Frauen mit, Zehntausende skandierten bei Demonstrationen »Mein Bauch gehört mir«. Geht das Thema Schwangerschaftsabbruch jede Frau an?

Ja. Und eigentlich auch jeden Mann. Deswegen ist es ein so großes und schwieriges Thema. Diese Erfahrung habe ich in den fünf Jahren machen dürfen: Die Menschen kommen zu mir mit eigenen Geschichten aus ihren Familien, die unter der Decke waren.

Hatten ungewollt schwangere Frauen in den 1970er und 80er Jahren leichter Zugang zu wichtigen Informationen als heute?

Ja. Mir berichten Frauen: Ich hatte damals einen Abbruch, mein Arbeitgeber hat mir dafür freigegeben. Das ist heute kaum vorstellbar. Es gab eine schleichende Tabuisierung, auch durch den Einfluss der Rechten.

Wer nicht betroffen ist, bekommt von der Situation nichts mit - und wer betroffen ist, spricht nicht darüber.

Ja. Die Leute sind total erstaunt, dass Frauen in den Praxen einfach nicht weitergeholfen wird. Das höre ich gerade von Männern.

Was sagen Sie zu den Vorwürfen Ihrer Kritiker? Zum Beispiel: Sie wollen den Paragrafen 219a abschaffen, um Geld zu verdienen.

Noch ist ein Schwangerschaftsabbruch nicht kostendeckend zu machen. Das ist soziales Engagement. Allein deshalb ist das Argument absurd. Wenn ich als Ärztin im Rettungdienst die Nummer 110 bekanntmache, werbe ich damit ja nicht für einen Herz-Kreislauf-Stillstand.

Oder: Wollen Sie Abtreibung völlig ungeregelt bis kurz vor dem Geburtstermin zulassen?

Es zeigt sich in Ländern, in denen der Abbruch außerhalb des Strafrechts geregelt wird: Keine Frau treibt leichtfertig vor der Geburt ab.

Oder: Keine Frau in Deutschland muss gegen ihren Willen ein Kind austragen.

Es gibt durch die schlechte Versorgungslage Frauen, die scheitern. Wenn sie Glück haben, fahren sie ins Ausland oder machen einen illegalen Abbruch übers Internet. Manche suizidieren sich, weil sie den Weg nicht schaffen. Oder sie legen das Kind nach der Geburt in den Mülleimer. In unserem Land.

Da sagen manche: Ungewollt Schwangere könnten das Kind doch bekommen und zur Adoption freigeben.

Wir hatten ja in Deutschland die sogenannten Heime für gefallene Mädchen. Das ist keine Lösung für ungewollt Schwangere. Die meisten haben ja bereits Kinder.

Sie werden im August 66 Jahre alt. Planen Sie Ihren Ruhestand?

Ich habe noch einmal einen Umzug meiner Praxis auf mich genommen, damit es weitergeht. Ich würde gern schon mal in Teilrente gehen. Ich habe ständig Studierende und Ärztinnen zur Ausbildung da. Ich hoffe, dass jemand von ihnen bleibt und die Arbeit weiterführt.

Wo kann man in Gießen überhaupt Schwangerschaftsabbrüche machen lassen?

Nur hier. Am Uniklinikum ausschließlich aus medizinischen Gründen, nicht nach Beratung.

Wo werden Sie die entscheidende Bundestags-Abstimmung verfolgen?

In Berlin auf der Besuchertribüne.

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