Hoffentlich auch mal in Gießen

Der Mannheimer Theatermacher Boris Ben Siegel hat in Gießen Menschen getroffen, die ihm von ihren Erlebnissen aus der Zeit, als die Mauer fiel und Gießen für viele aus der DDR zur Durchgangsstation wurde, erzählt haben. Ihre Berichte werden Teil einer Performance zum Kultursommer Ludwigshafen. Nicht nur Siegel hofft, die auch eines Tages in Gießen zeigen zu können.
Einen wahren Gesprächsmarathon hat Boris Ben Siegel hinter sich, als er an diesem Morgen im Hotel Heyligenstaedt bei einer Tasse Kaffee von seinem Aufenthalt in Gießen erzählt. Drei Tage hat der Theatermann aus Mannheim in der Stadt verbracht, auf der Suche nach Zeitzeugen der besonderen DDR-Vergangenheit Gießens. Sieben ganz unterschiedliche Menschen hat er getroffen und im Schnitt rund zwei Stunden mit jedem Einzelnen gesprochen. Ihre Geschichten wird er für ein performatives Projekt zum Ludwigshafener Kultursommer (1. Juni bis 31. August) verwenden - und hofft, das auch eines Tages in Gießen selbst zeigen zu können.
Aus der Botschaft in Prag nach Gießen
Im Aufnahmelager am Gießener Meisenbornweg kamen nicht nur in der Zeit des Mauerbaus »Republikflüchtlinge« aus der DDR an, hier war auch nach dem Fall der Mauer im Jahr 1989 und in jenen denkwürdigen Tagen in der Prager Botschaft, wo Hunderte DDR-Bürger auf ihre Ausreise in den Westen hofften, eine erste Durchgangsstation für sie eingerichtet. Der gebürtige Thüringer Boris Ben Siegel, der heute das Theater Oliv in Mannheim leitet und selbst in seinen Zwanzigerjahren in den Westen gegangen war, hat mit Gießenern gesprochen, die ihm von dieser Zeit erzählten. Ihre unterschiedlichen Blickwinkel, teils als O-Töne, wird er zum Teil seiner Performance werden lassen. Einige wollen dabei lieber anonym bleiben.
So wie der ehemalige Zeitsoldat, der Siegel von seiner Zeit in der Steubenkaserne berichtet hat. Dort waren manche der Menschen, die die DDR über Prag verlassen hatten, vorübergehend untergebracht. Eine Woche oder auch nur zwei Tage verbrachten Familien mit Kindern hinter Kasernenmauern - für die Menschen, die gerade erst ihre Freiheit erlangt hatten, aber auch für den Zeitsoldat selbst eine zweispältige Erfahrung, auch wenn sie sich im Prinzip frei bewegen konnten.
Wesentlich früher hatte eine heutige Wahl-Gießenerin die DDR verlassen, die Boris Ben Siegel von ihren Erlebnissen erzählt hat. Ihr Vater wurde in der DDR verfolgt, die vierköpfige Familie wagte Ende der Sechzigerjahre über Berlin die Flucht. In Gießen fanden sie als sogenannte »Übersiedler« mit Flüchtlingsstatus im Meisenbornweg eine erste Durchgangsstation. In einem Haus in Gießen, in dem sie später lebte, wurde die Frau später noch mit Sprüchen wie »Flüchtlinge, haut ab« konfrontiert. Sie ist aber geblieben und lebt noch heute hier.
Der frühere Bürgermeister Lothar Schüler konnte Ben Siegel sozusagen von offizieller Seite von damals erzählen, als in Gießen die ersten Trabis fuhren und den Menschen möglichst unbürokratisch geholfen werden musste - für ihn ein Akt der Solidarität.
Als Menschen die Schienen küssten
Und auch Dieter Hoffmeister, Vorsitzender des Oberhessischen Künstlerbundes und früher als Sozialarbeiter tätig, konnte Ben Siegel nicht nur davon erzählen, wie schwierig es damals in dem Kompetenzgerangel war, mit minderjährigen »Republikflüchtigen« umzugehen, die eigentlich wieder zu ihren Familien zurück gemusst hätten, sondern auch von der Erleichterung der Menschen aus der Prager Botschaft, als sie endlich mit dem Zug am Gießener Bahnhof ankamen. Er habe dort auf der Brücke gestanden und die Menschen beobachtet, von denen einige vor Erleichterung die Schienen küssten, und dabei selbst Tränen in den Augen gehabt. Doch Hoffmeister stand an diesem Tag entgegen seiner Erwartungen allein auf seinem Beobachtungsposten auf der Brücke, um das historische Ereignis mit eigenen Augen zu sehen.
All diese Erzählungen wird Boris Ben Siegel in seine Performance zum Ludwigshafener Kultursommer einfließen lassen. »Das ist kein Theaterstück, es gibt kein Textbuch, alles bleibt performativ«, stellt er klar. Er will anhand seiner eigenen Geschichte - er selbst war »ganz unspektakulär« als 25-Jähriger im November 1989 von Annaberg-Buchholz im Erzgebirge nach Ludwigshafen umgezogen - von Flucht, nicht nur von Ost nach West, erzählen. Er will mit einem Boot von der Parkinsel zum Rheinufer übersetzen und vielleicht sogar ein Stück auf die Zuschauer zuschwimmen. Es wird ein Ensemble aus Bildern, szenischem Spiel und O-Tönen geben. Und vielleicht erklingt auch ein Einspieler, in dem der einstige Zeitsoldat beim Besuch von Siegel in seiner Wohnung seine Ukulele erklingen ließ. »Aber es soll nicht Lagerfeuerstimmung entstehen«, betont Siegel und hofft - auch weil die meisten seiner Gießener Gesprächspartner schon etwas älter und weniger mobil sind -, die Performance auch eines Tages in Gießen zeigen zu können. Vielleicht am Ufer der Lahn, ganz in der Nähe des ehemaligen Notaufnahmelagers im Meisenbornweg. »Das Bild, das entsteht, lässt uns vielleicht Antworten auf Fragen finden. Und man wird assoziieren können, zu Flüchtlingen von heute, zu Lagern von heute. Womöglich«, hofft er.
Siegels Performance »Vom Osten in den Hemshof« ist beim Ludwigshafener Kultursommer in der Reihe »Sehnsucht Ost« vom Freitag, 10. Juni, bis Sonntag, 12. Juni. jeweils 19 Uhr, am Rheinufer/Parkinsel zu sehen. Infos zum Kultursommer findet man auf www.ludwigshafen.de/lebenswert/kulturbuero/kultursommer. Kontakt zu Ben Siegel: E-Mail an bb@borisbensiegel.de.
