»Hitler hat mir nicht so gut gefallen«

Ab welchem Alter sollten sich junge Menschen mit dem Holocaust beschäftigen? Und vor allem: Wie? Der Kinderkanal KiKa wagt jetzt zusammen mit Sascha Feuchert von der Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Uni Gießen den ambitionierten Versuch, das Thema bereits für Viertklässler zu erschließen. Mithilfe von Anne Frank.
Am 5. April 1944 schreibt Anne Frank in ihr rot-beiges Tagebuch: »Das ist die große Frage, werde ich jemals etwas Großes schreiben können, werde ich jemals Journalistin und Schriftstellerin werden? Ich hoffe es, ich hoffe es so sehr!« Nur vier Monate später wird die 15 Jahre alte Anne Frank zusammen mit sieben weiteren in einem Amsterdamer Hinterhaus versteckten Menschen entdeckt, verhaftet und deportiert. Ihr Vater überlebt als einziger von ihnen die Vernichtungslager der Nationalsozialisten. Am 25. Juni 1947 veröffentlicht er das Tagebuch seiner Tochter und erfüllt so ihren Traum. Das Werk zählt zu den wichtigsten Texten des 20. Jahrhunderts, ist Symbol für den Völkermord an den Juden durch Nazi-Deutschland und gibt Einblick in das Leben, die Gefühle und Ängste einer Jugendlichen, die viel zu früh erwachsen werden musste. Und die im Vernichtungslager Bergen-Belsen viel zu früh sterben musste.
Auch in Schulen - von denen in Deutschland knapp 90 den Namen Anne Frank tragen - ist der Nationalsozialismus, der Antisemitismus, der Rassenhass und das industrielle Morden Thema. Dies geschieht aber in der Regel oft erst in der achten oder neunten Klasse. »Wir denken, dass man bereits in der Grundschule beginnen kann, Kinder an das Thema heranzuführen«, sagt Sascha Feuchert. Er ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur. »Diese Kinder sind auch mit Rassismus und Antisemitismus konfrontiert«, sagt Feuchert. »Und sie haben Fragen.«
Deshalb hat sich die Arbeitsstelle zusammen mit dem öffentlich-rechtlichen Kinderkanal KiKa an ein ambitioniertes Projekt herangewagt: das Thema Anne Frank bereits für Schülerinnen und Schüler der vierten Klasse zu erschließen. Das Ergebnis konnten am Donnerstagvormittag 43 Viertklässler der Kirschbergschule in Reiskirchen exklusiv vor der Premiere bei KiKa am 12. Juni - dem bundesweiten Aktionstag gegen Antisemitismus und Rassismus zu Anne Franks Geburtstag - sehen.
Um sich Anne Frank zu nähern, bietet sich das KiKa-Geschichts-Format »Triff « an, das in Zusammenarbeit mit dem WDR und dem HR produziert wird. Dort trifft die zeitreisende Reporterin Clarissa Corrêa da Silva Persönlichkeiten der Zeitgeschichte. Darunter sind Napoleon und Cleopatra, aber auch Harriet Tubman, die ab 1849 Sklaven bei der Flucht aus den amerikanischen Südstaaten in die Nordstaaten half.
Corrêa da Silva erlebt in dem 25-minütigen Beitrag, wie Anne Frank (gespielt von Katharina Kron) an ihrem 13. Geburtstag ein Tagebuch geschenkt bekommt. Sie ist dabei, als das Mädchen mit ihrer Familie und einer weiteren Gruppe untertaucht und sich versteckt. Und sie erfährt, dass die Gruppe entdeckt und deportiert wurde. Der Beitrag endet mit einem Rundgang im Anne-Frank-Museum und einem Interview mit einer von Anne Franks besten Freundinnen, der heute 93 Jahre alten Jacqueline van Maarsen. Geschichtliche Hintergründe - wie die Machtübernahme Hitlers, der von Nazi-Deutschland entfachte Zweite Weltkrieg, die Verfolgung von Juden und ihre Deportation in die Vernichtungslager - werden mithilfe von Animationen erklärt.
Am Drehbuch mitgeschrieben
Feuchert hat am Drehbuch mitgeschrieben. In seiner Verantwortung entstanden außerdem Unterrichtsmaterialien für den Einsatz von »Triff Anne Frank« im Unterricht der Klassen vier bis sechs. Mitarbeitende der Arbeitsstelle Holocaustliteratur werden begleitend zur Ausstrahlung am 12. Juni dem jungen TV-Publikum in einem Chat auf kika.de Fragen zur Folge beantworten.
Es ist ein emotional aufwühlendes Thema, mit dem die Viertklässler konfrontiert werden. Feuchert sagt im Vorgespräch, dass die Kinder in diesem Alter Anne Franks Situation nachempfinden könnten, als diese sich versteckte und Angst hatte, entdeckt zu werden. Sie verstünden, dass dies alles Folge der Verfolgung durch die Nazis gewesen sei. Und prompt sagt beim anschließenden Filmgespräch ein Schüler: »Ich finde es hart, dass sie weglaufen musste.« Gleichzeitig lassen die Macher nichts aus - auch nicht den Tod von Anne Frank. »Wir gehen nur nicht ins Detail«, sagt Feuchert. Denn es gehe nicht darum, die Kinder zu überfordern oder zu traumatisieren. Sondern darum, sie frühzeitig zu sensibilisieren. Denn: »Rassismus und Antisemitismus sind nicht verschwunden.«
Im Laufe des Filmgesprächs fragt Corrêa da Silva die Grundschüler, was ihnen an der Folge nicht so gut gefallen habe. Ein Mädchen meldet sich. Es sagt: »Hitler hat mir nicht so gut gefallen.« Es tut gut, zu wissen, dass manche Kinder weiter sind als manche Erwachsene.
