Historische Alltagszeugnisse

Gießen (hin). Ein Rundgang durch das »Wallpförter Quartier« beleuchtete am Sonntagnachmittag das historische Alltagsleben von Juden und Jüdinnen in Gießen. Rund ein Dutzend Interessierte hatten sich zu dem von Torben Stich (Netzwerk für politische Bildung, Kultur und Kommunikation, kurz: NBKK) geleiteten Spaziergang eingefunden. Eingeladen hatten das Jugendbildungswerk (vertreten durch Sabine Brück) und die DEXT-Fachstelle (Demokratieförderung und phänomenübergreifende Extremismusprävention) vertreten durch Birgit Schlathölter.
1933 lebten 1264 Juden in Gießen
Der Stadtrundgang basierte auf dem Projekt »Historische Alltagsspuren von Juden und Jüdinnen in Gießen«. Am 30. Januar 1933 lebten 1264 Juden und Jüdinnen in Gießen, wie Torben Stich berichtete. Weniger als die Hälfte, nämlich 520, konnten der Vernichtung durch die Nationalsozialisten entgehen.
Allem Anschein nach bestand in Gießen um 1300 herum ein erstes, von Juden und Jüdinnen bewohntes Gebiet. Eine Judengasse wird erstmals Mitte/Ende des 16. Jahrhunderts erwähnt. Sie hat aber wohl schon früher bestanden. Die Mehrzahl der im ausgehenden 17. und 18. Jahrhundert in Gießen ansässigen Juden wohnten und arbeiteten im sogenannten »Wallpförter Quartier«. Torben Stich erklärte dies mit der Nähe zur Betstube und zum Markt. Die Nähe zum Markt war deswegen von Bedeutung, weil Juden der Zutritt zu den Zünften verwehrt war. Sie lebten daher vom Handel mit Waren, die zünftisch nicht gebunden waren. Eine Marktordnung von 1608 erschwerte ihnen den Zugang zum Markt. So durften sie nichts kaufen, was über ihren persönlichen Bedarf hinausging, wie Stich betonte. Auch wurde ihnen nur gestattet, nach 10 Uhr auf dem Markt einzukaufen. Das Wallpförter Quartier umfasste das Gebiet nördlich des Kirchenplatzes, die Walltorstraße, den Asterweg, die Waitzengaß (heute vermutlich Wetzsteingasse), die Zozelsgasse, den Lindenplatz, den Brandplatz und einen Teil des Marktplatzes. Die Walltorstraße war übrigens eine Hauptverkehrsverbindung zwischen Frankfurt und Kassel, wie die Zuhörerinnen und Zuhörer erfuhren.
Nur 520 entgingen der Vernichtung
Ganz in der Nähe des Lindenplatzes lag die einstige, heute überbaute Zozelsgasse. Ein relativ unauffälliges Schild weist auf den Standort der dortigen, ehemaligen Synagoge hin. Das Gebäude existiert noch, allerdings ist es der Öffentlichkeit nicht zugänglich und wohl auch nicht bewohnt. Die Synagoge in der Zozelsgasse wurde, nachdem eine neue Synagoge entstanden war, in ein Wohnhaus umgewandelt und entging wohl nur dadurch der Zerstörung, wie es hieß.
Kirchenplatz, Neustadt und Bahnhofstraße verzeichneten eine Vielzahl jüdischer Geschäfte, wie Torben Stich anhand von Zeitungsannoncen illustrierte. K. Grünebaum (Kirchenplatz 9) warb für den Kauf von Stiefeln »in prima Leder, darunter viele passend für Confirmanden«. Samuel Elsoffer (Marktstraße 27) vertrieb Liköre, Wein, Spezereien (Gewürze) und Galanteriewaren (modische Accessoires), um nur eine Auswahl der Produkte zu nennen. Außerdem war er Agent von Transporten für Auswanderer. Ehefrau Berta erweiterte das Angebot im nach ihr benannten Kaufhaus um Zuckerwaren, Zigarren, Kurz-, Weiß- und Wollwaren - auch dies nur ein Ausschnitt aus dem reichhaltigen Angebot.
Den Abschluss des Rundgangs bildete ein Blick auf das einstige Bankhaus Grünewald in der Bahnhofstraße 50. Jakob Grünewald war Bankier und Hofrat, »Beirat und Vertreter des Kohlesäurewerks Deutschland Hönningen« und Händler von Bergwerksprodukten. Grünewald konnte nach Palästina emigrieren, wo er 1945 in Tel Aviv verstarb.