Das Herz der Weststadt

Die Gießener Weststadt hat ihren Weg von einem sozialen Brennpunkt zum begehrten Wohnviertel hinter sich. Dabei geholfen hat die Gemeinwesenarbeit, die dort vor 50 Jahren ihren Anfang nahm. Sinnbild ist auch das Wilhelm-Liebknecht-Haus, das vor 30 Jahren eröffnet wurde. Dieser doppelte Geburtstag wird nun gefeiert.
Zwei Gesichter, zwei Geschichten, die stellvertretend für den Wandel der Gießener Weststadt stehen: vom sozialen Brennpunkt zum begehrten Quartier. Der auf der »Gummiinsel« aufgewachsene Rapper »Badoblack« schrieb im Wilhelm-Liebknecht-Haus am Leimenkauter Weg seine ersten Songtexte. Diese ließ er von den in der Gemeinwesenarbeit tätigen Mitarbeitern korrigieren. Auch Lowana Klein wuchs dort auf, ihre Tochter nimmt auch Angebote im Wilhelm-Liebknecht-Haus wahr. »Ich habe hier Dinge erleben können, die zu Hause nicht möglich waren«, sagt Klein. »Alle, mit denen ich aufgewachsen bin, sind etwas geworden und am Ende nicht auf der Straße gelandet.«
Bei ihrem Weg geholfen haben zwei Institutionen, die in diesem Jahr jeweils ihren runden Geburtstag feiern: Seit 50 Jahren wird in der Weststadt Gemeinwesenarbeit angeboten. Und seit 30 Jahren ist das Wilhelm-Liebknecht-Haus das heimliche Herz des Viertels. Vom Kleinkind- bis ins Erwachsenenalter gibt es hier vonseiten des Diakonischen Werks zahlreiche Angebote - von der Freizeitbetreuung für Kinder und Jugendliche bis hin zur Schuldnerberatung.
Entstanden waren die Backsteinhäuser in der Gießener Weststadt in den 30er Jahren. Sie waren Notquartiere für Familien jenischer Schausteller, Altwarenhändler und Nachfahren heimischer Sintifamilien. Das Viertel war vom Rest der Stadt isoliert , der Ruf wegen der hohen Arbeitslosigkeit und Kriminalitätsrate ramponiert. Deshalb fingen vor 50 Jahren Mitarbeiter der evangelischen Stephanusgemeinde an, Angebote für Kinder und Jugendliche zu machen.
Räumlichkeiten fanden sie zum Beispiel in der »Lederinsel« und der Stephanusgemeinde, aber auch in der Rotklinkersiedlung selbst: Spielstube und Hausaufgabenhilfe, Jugendarbeit in der »Baubud« oder Erwachsenenangebote im ehemaligen Rewe-Laden. Auf lange Sicht aber erschienen diese Standorte zu provisorisch. Vor allem die Frauen und Senioren des Quartiers forderten vehement ein eigenes Haus, in dem alle Angebote zusammengefasst sind, sagt Ute Kroll-Naujoks, stellvertretende Leiterin des Diakonischen Werks in Gießen. Das erhielten sie 1989: Die Gemeinwesenarbeit zog mit allen Arbeitsbereichen ins Wilhelm-Liebknecht-Haus um.
Die Arbeit im Viertel, sagt der für die Jugendarbeit zuständige Andreas Schmidt, habe sich in den vergangenen Jahrzehnten »brutal gewandelt«.Waren die Helfer zu Beginn in der Siedlung unterwegs und besuchten die Menschen in deren eigenen vier Wänden, kamen die Bewohner später ins Wilhelm-Liebknecht-Haus. »Die Einrichtung hat eine hohe Akzeptanz«, sagt Schmidt, »weil die Bewohner dafür gekämpft haben, so ein Haus zu bekommen.«
Heute finden sich dort vier Arbeitsbereiche, sagt Kroll-Naujoks. Kinder ab drei Jahren können die Kindertagesstätte besuchen. Schwerpunkte sind die psychomotorische und sprachliche Förderung. Geleitet wird sie von Diana Schwarz. Im Schülerclub erhalten Grundschulkinder Hausaufgabenhilfe und eine individuelle Förderung; außerdem können sie an Freizeitaktionen teilnehmen. Im Jugendclub gibt es Angebote für Kinder ab zehn Jahre. Hier gibt es neben der schulischen Förderung und der Kooperation mit den Stadtteilschulen Freizeitaktivitäten und Projekte. Erwachsene erhalten neben allgemeiner Lebensberatung eine Schuldnerberatung; hinzu kommen Gruppenangebote für Senioren und Zugewanderte.
Gerade die Vernetzung der vier Arbeitsbereiche sei das Erfolgsgeheimnis der Gemeinwesenarbeit, betont die Quartiersmanagerin Annke Rinn. Vom Diakonischen Werk hätten die Gemeinwesenarbeiter außerdem viele Freiheiten bekommen, sagt Kroll-Naujoks. Auch die Unterstützung der Stadt und der Wohnbau hätten dazu beigetragen, dass die Integration des ehemaligen Problemviertels in die Stadt gelungen sei - so gut, dass der Stadtteil nun als Wohnort begehrt ist.