1. Gießener Allgemeine
  2. Gießen

Großer Wunsch nach Sichtbarkeit

Erstellt:

Von: Christoph Hoffmann

Kommentare

IMG-3485_060323_4c
Die erste öffentliche Führung hat viele Besucher angelockt. © Christoph Hoffmann

Rund 100 Menschen haben am Samstag bei der ersten Führung die Überreste der großen Synagoge der liberalen jüdischen Gemeinde vor der Kongresshalle besichtigt. Viele äußerten den Wunsch, dass die Mauern sichtbar bleiben sollen. Wie die Stadt mit der Fundstelle umgehen wird, ist noch unklar.

Als Stadtarchäologe Björn Keiner die Absperrgitter beiseite schiebt, tritt die erste Reihe der Besucher vorsichtig an die Abbruchkante. Beinahe ehrfürchtig blicken die Menschen auf die Mauern. Auch eine ältere Dame bestaunt die Überreste. Beim Blick hinab flüstert sie ihrem Ehemann zu: »Da muss eine Kuppel drüber.«

Der Fund der Überreste der ehemaligen jüdischen Synagoge in der Südanlage hat in der Stadt für viel Aufsehen gesorgt. Vor zwei Wochen hatte das Rathaus bekanntgegeben, dass im Zuge des Umbaus der Kongresshalle die Grundmauern des jüdischen Gotteshauses freigelegt worden sind. Die Synagoge war vor fast 85 Jahren während des Judenpogroms durch die Nazis vollständig zerstört worden.

In Gießen gibt es viele alte Mauern, auch ältere als die vor der Kongresshalle. Dennoch dürften wenige derart emotional aufgeladen sein wie jene der Synagoge. Kein Wunder, dass der Andrang bei den beiden Führungen groß war.

Von Keiner erfuhren die 100 Besucher, dass die Mauern den Keller bildeten, der sich unter dem Mittelbau der ab 1865 errichteten und 1892 erweiterten »Neuen Synagoge« befand. Der Sakralbau habe 500 Personen Platz geboten.

Da bekannt ist, dass an dieser Stelle einst die Synagoge stand, war der Denkmalschutz in den Arbeiten von Anfang an eingebunden, sagte Keiner. »Wir haben damit gerechnet, dass wir vielleicht noch ein kleine Gebäude-Ecke finden können.« Mit dem tatsächlichen Ausmaß hätten die Experten aber nicht gerechnet. Bei den ersten Steinen sei noch unklar gewesen, ob sie wirklich zur Synagoge gehörten. Doch dann seien verkohlte Papiere, zum Teil mit hebräischen Schriftzeichen gefunden worden. »Von da an war die Sache klar«, sagte Keiner.

Der Stadtarchäologe fügte an, dass im Zuge der Freilegung auch Reste von Baracken gefunden wurden, die nach der Zerstörung der Synagoge vor der Kongresshalle aufgestellt wurden und Gießenern, die durch die Bomben ihr Zuhause verloren hatten, eine Unterkunft boten. So gesehen sei der Fund in doppelter Hinsicht bedeutsam für die Gießener Erinnerungskultur.

Dabei könnten noch weitere Reste der Synagoge in der Erde schlummern, und zwar unter dem Areal hin zur Südanlage, sagte der Stadtarchäologe und fügte an, dass das Gebiet womöglich mit einem Bodenradar abgesucht werden soll. Eine weitere Grabung sei derzeit aber nicht geplant. »Die Methoden der Archäologie werden immer besser. Gleichzeitig ist die Erhaltung im Boden am vorteilhaftesten. Das beste, was wir daher tun können, ist zu warten. In wenigen Jahrzehnten werden die Restaurierungsmöglichkeiten vermutlich deutlich besser sein.«

Noch weitere Relikte vermutet

Sowohl Keiner als auch Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher hoben zudem den Standort der Synagoge hervor: Nicht, wie in früheren Zeiten üblich, versteckt in einer »Judengasse«, sondern an einer sehr repräsentativen Stelle gegenüber des Stadttheaters und neben Rathaus sowie Freimaurerloge. Das ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, was den Gießener Juden gut 70 Jahre nach Bau der Synagoge angetan wurde. Und auch heute muss sich die Jüdische Gemeinde im Burggraben mit kugelsicherer Tür und weiteren Sicherheitsvorkehrungen abschotten.

Umso wichtiger, darin sind sich die Verantwortlichen im Rathaus einig, ist eine intensive Erinnerungskultur. Die Überreste der Synagoge sollen dabei einen besonderen Stellenwert einnehmen. Wie das aussehen kann, ist noch unklar, sagte Becher und erinnerte daran, dass auch die Kongresshalle samt dem umliegenden Areal unter Denkmalschutz stehe. Zunächst müsse man den Abschlussbericht des Landesamts für Denkmalpflege abwarten, zudem seien Experten beauftragt worden, Ideen für eine Zugänglichmachung zu entwickeln.

Ob es eine Kuppel wird, wie es der älteren Dame beim Blick auf die Mauern durch den Kopf schoss? Wahrscheinlicher erscheint eine Glasplatte wie sie zum Beispiel auch in der mittelalterlichen Synagoge in der Marburger Oberstadt eingesetzt wurde. Von dieser Idee waren viele der Besucher angetan. Becher nannte aber auch andere Möglichkeiten, obendrein brachte er virtuelle Darstellungsmöglichkeiten ins Spiel. »Klar ist, dass die Stelle in irgendeiner Weise markant erkennbar markiert wird«, versicherte der OB.

Stadtarchäologe Keiner fügte hinzu, dass ein simples Zuschütten der Grube keine Option sei - auch wenn das für die Konservierung der Mauern der beste Weg sei. Stattdessen seien die Planungen für den Umbau der Kongresshalle schon jetzt angepasst worden. Eigentlich sollte an der Fundstelle eine Zisterne eingegraben werden. »Das ist«, betonte Keiner, »selbstverständlich vom Tisch.«

Auch interessant

Kommentare