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Große Visionen zum Scheitern verurteilt

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Von: Sonja Schwaeppe

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Gieszen_06_240522_4c © Sonja Schwaeppe

Gießen (son). Auf dem »Elefantenklo«, dem in Beton gegossenen Symbol einer autogerechten Stadt, begann sinnigerweise die satirische Stadtführung »Utopia 6000«. Die Künstler Peter Schomber und Wolf D. Schreiber hatten eine amüsierte Teilnehmerschaft auf einen besonderen Stadtrundgang eingeladen. Auf der rund anderthalbstündigen Führung erfuhren die Teilnehmer, was der - »leider verschollene« - Visionär und ehemalige leitende Architekt der Stadt Gießen, Alfred Pfeil, in den Sechzigerjahren mit der Stadt so alles im Sinn hatte.

Algenfarm am Elefantenklo

So habe das Elefantenklo eigentlich als Grundgerüst für eine innerstädtische Algenfarm dienen sollen. »Pfeil wollte hier einen schnell erfahrbaren und einnehmenden Stadtraum schaffen, der den Bürgern die Möglichkeiten des Erlebens geben sollte«, führte Schomber aus. Die Algenfarm an zentraler Stelle hätte Gießen und Umgebung ernährt, für ein gutes Stadtklima gesorgt und wäre für alle kostenlos gewesen. »Gießen hätte weltweit ganz vorne mitgespielt«, betonte Schomber. Aber leider hätten die Stadtoberen recht bald nach der Errichtung des Bauwerks eine bis heute andauernde Zweckentfremdung beschlossen. Wie es auch bei anderen von Alfred Pfeil konzipierten Bauwerken der Fall sei, ergänzte Wolf D. Schreiber. »Leider brach sich das Automobil wortwörtlich Bahn.« So wurde nichts aus dem Erholungsort am Selterstor, der mit dem aus Algen gewonnenen Universalnahrungsmittel »Liquid Green« die gesamte Stadtbevölkerung hätte ernähren können. Eine Flasche des grünen Wundermittels zog Schomber als »Beweis« aus seinem Köfferchen.

Auch das heute als Fina-Parkhaus bekannte Gebäude am Anlagenring war ursprünglich nicht für Autos vorgesehen. »In diesem luftigen Gebäude sollten die Rückstände aus der Algenproduktion getrocknet und zu Kügelchen weiterverarbeitet werden«, berichteten Schomber und Schreiber. Danach, so habe es Pfeil vorgesehen, »wären sie per Regionaltram zu Textilwerkstätten in der näheren Umgebung gebracht und zu Stoffen verarbeitet worden.« »Aufgrund der grünen Färbung vornehmlich für Dienstkleidung von Polizisten, Förstern und Jägern.« Doch auch hier habe die Stadt rasch eine Zweckentfremdung beschlossen und wieder nur dem Individualverkehr gehuldigt. »Das hat Pfeil in Missmut verfallen lassen«, wusste Schomber. Wütend habe der Gießener Architekt diesen Vierzeiler gedichtet, der noch heute überliefert sei: »Das Auto bringt uns um, es ist so furchtbar dumm, meist steht es nur so rum - so arg dumm.« An weiteren Stationen erfuhren die Teilnehmer von vielen Visionen Pfeils, der wirklich ein großer Sozialutopist gewesen sein muss. So hätte am Standort des Blumen Corso im Theaterpark eingentlich ein Welcome-Center stehen müssen, das die Kunde von Gießen als Leuchtturmprojekt in die Welt tragen sollte. »Inklusive von Stadtführungen in 60 Sprachen.« Die Kongresshalle entpuppte sich der staunenden Zuhörerschaft als Planungsgrundlage für eine autarke Energieversorgung. »Hier sollte mit Steinwärme vulkanischen Ursprungs die Stadt mit Wärme und Energie versorgt werden«, wussten die kundigen Gästeführer. Die von Pfeil geplanten unterirdischen Akkus unter der Stadt hätten Gießen auch noch mal stabilisiert. »Aber heute ist die Kongresshalle nur noch ein Versammlungsort.« Eine Zweckentfremdung - wieder. Immerhin habe sich die Stadt kürzlich zur Errichtung einer Klagemauer am Berliner Platz an der Bushaltestelle durchringen können - als Ventil für den Ärger der Bürger. Allerdings habe man die Nischen für die Klagezettel vergessen - »ein weiteres Zeichen für die stete Verschlimmbesserung, die in Gießen betrieben wird.«

Klagemauer an der Kongresshalle

Nach Stationen am Dachcafé und der Alten UB mussten Schomber und Schreiber feststellen, dass die soziale Stadtutopie von Alfred Pfeil glanzlos gescheitert sei. Pfeil gelte seitdem als verschollen.

Aus seinen Schriften ist aber Folgendes noch überliefert: »Wehe wer sich leiten lässt vom Autoverkehr in der Stadtplanung oder im Gemeinwesen - der wird verdammt sein in der ewigen Unterwürfigkeit des Reagierenden. Niemals wird er hernach in der Lage sein, klug und weise zu handeln. Er wird sich winden in endlosen Sachzwängen und sich sagen ›There ist no alternative‹. Das wird der Stadt Verdammnis sein.«

Der Applaus der Teilnehmer war Schomber und Schreiber sicher. Auf eine weitere Auflage dieser Stadtführung über den Visionär Alfred Pfeil können wir alle nur hoffen: Er, Pfeil, wollte uns allen die Augen öffnen.

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Utopia6000_240522_4c © Sonja Schwaeppe

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