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Gießens »Achse des Mondänen«

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Von: Karola Schepp

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Dr. Jutta Failing Stadtführerin © Red

Für Stadtführerin Dr. Jutta Failing ist Gießen eine Stadt voller beeindruckender Villen. Mit einer Tour im Viertel rund um den Nahrungsberg will sie zeigen, wo sich der Blick die Giebel hinauf besonders lohnt. Und sie will von den Menschen erzählen, die einst dort lebten und grandiose Feste feierten. Entsprechend heißt ihr neuer Rundgang auch »Mondänes Gießen:

Villen, Feste, Lustbarkeiten rund um Stein’s Garten«.

Wilhelm Wenzel, von seinen Freunden »Aschanti« genannt, war ein illustrer Gastronom. Nachdem er von einem längeren Aufenthalt in San Francisco wieder in seine Heimatstadt Gießen zurückgekehrt war, übernahm er in den 1860er Jahren »Zinßers Garten« am Nahrungsberg. Aus dem »Vergnügungsetablissement für die gute Gesellschaft« - eingerichtet im einstigen Ruhesitz des Festungskommandanten und von Architekt Hugo von Ritgen um 1850 durch Umbauten erweitert - machte er einen Ort für Lustbarkeiten aller Art.

Wo sich zuvor Honoratioren der Stadt zum Ball trafen oder es sich bei Brunnenkuren gut gehen ließen - im Klartext: beim Rundgang durch den Garten plaudernd einen Krug des damals kostbaren Mineralwassers tranken - ließ Wenzel nun im terrassenförmig angelegten Garten Militärkapellen auftreten. Er engagierte Varieté-Künstler, bot die damals beliebten »Singhalesen- und Indianerschauen« sowie Wasserspiele und Feuerwerkspektakel an. Im großen, mit Kronleuchtern, rotem Plüschvorhang und Goldbronzestuck verzierten Festsaal fanden die Bälle der feinen Gießener Gesellschaft statt.

Luftballonfahrt in Wenzels Garten

Einmal organisierte der findige Gastronom im »Wenzel’schen Garten« sogar eine Luftballonfahrt. Dumm nur, dass die mit einem Missgeschick endete: Der Ballon mit ihm an Bord erreichte zwar mit der Gondel noch die Höhe des Dachs, doch das Gas verflüchtigte sich und die Gondel glitt wieder zur Erde zurück.

Nachdem der »Gartenwenzel« mit seiner Familie wieder nach Amerika zurückgekehrt war, brachte Gastwirt Kaspar Stein das »Vergnügungsetablissement« wieder in etwas ruhigeres Fahrwasser. Auch wenn er schon bald an einen Nachfolger übergab, so ist sein Name dem Ort doch bis heute erhalten geblieben: hier, am nun deutlich verkleinerten Stein’s Garten befindet sich heute das Hotel gleichen Namens.

Es sind Geschichten wie diese, die Stadtführerin Dr. Jutta Failing mit ihrer neuen Tour Stadtkennern und -neulingen aus Gießens »Belle Époque« erzählen will. Nachdem sie im vergangenen Sommer mit »Villen, Gärten, Dienstboten - der Gießener Millionärshügel« höchst erfolgreich den Fokus auf die Prachtbauten reicher Industrieller im Südviertel gelegt hatte, lädt die Kunsthistorikerin nun 2023 zum Rundgang »Mondänes Gießen. Villen, Feste, Lustbarkeiten rund um Stein’s Garten« ein. Und der belegt eindrucksvoll ihre These, dass Gießen eine wahre Villenstadt ist.

Noch befindet sich die Stadtführerin mitten in der Recherche, feilt an der optimalen Wegführung, sucht nach alten Geschichten und Bildern, die sie ihren Gästen erzählen und zeigen kann. Denn nicht alles, was einst das Stadtbild prägte, ist heute noch erhalten. So wie das früher an der Ecke Gartenstraße stehende Jahndenkmal, dessen Bronzeplatte sich heute in Stein’s Garten befindet und an das Gauturnfest von 1912 erinnert. Auch vom Weinanbau, der im Mittelalter am Südhang gepflegt worden sein soll, ist heute nichts mehr zu erkennen. Geblieben ist aber die grandiose Aussicht, die, je weiter man auf den Hügel steigt, bis weit hinter die Burgen Gleiberg und Vetzberg im Westen reicht. Kein Wunder, dass früher der Blick vom Nahrungsberg über unterschiedliche Sichtachsen immer wieder ein beliebtes Postkartenmotiv war.

Auch heute noch schätzen viele der Bewohner die besondere Lage. Die 2019 erbaute »Schiff-Villa« oben an Stein’s Garten mit ihren organischen Architekturformen zeugt davon. Ebenso die 1951/52 vom Star-Architekten Hermann Dirksmöller - »der geplante Rundweg ist quasi gepflastert mit von ihm entworfenen Gebäuden«, sagt Failing - als Gästehaus der Firma Heyligenstaedt am Südhang errichtete Villa. Sie wurde aus heutiger Sicht im Stil einer Hollywood-Villa gebaut und 2019 saniert, mit einer riesigen Freitreppe, wunderschöner Aussicht und einem großen Pool. »Das ist Gießens ›Hollywood-Hill‹-Style«, freut sich Failing und verrät: »Die Pool-Dichte im gesamten Viertel ist hoch.«

Zum Glück sind auch viele der alten Villen in mehr oder weniger gutem Zustand erhalten geblieben: so wie die Villa Gail in der Gartenstraße 22, in der die Stiefmutter von Kommerzienrat Wilhelm Gail, der 1891 die Gail’sche Dampfziegelei und Tonwarenfabrik gründete, ihren Witwensitz hatte und die Architekt Dirksmüller 1946 wieder aufgebaut hatte. Ursprünglich war das Haus 1839 für Prof. Hirstedt, einen Nachfolger Conrad Röntgens, errichtet worden.

Ganz in der Nähe, in der Gartenstraße 14, befindet sich ein Haus aus Londorfer Lung-stein, der auch beim Bau der Johanneskirche verwendet wurde. Das Gebäude, das wegen des Basaltsteins besonders markant erscheint, wurde 1870 für Hofgerichtsadvokat Otto Urstadt errichtet, dessen Tochter Karoline Urstadt als Autorin der Romane »Neunfinger« und »Die Braut« sowie als Kulturredakteurin des 1933 von den Nationalsozialisten verbotenen Dortmunder Generalanzeigers bekannt wurde. Sie kehrte in ihr Elternhaus zurück, fand jedoch keine Anstellung mehr und starb 1944 im Kindbett.

Bemerkenswert ist, dass in dem Areal Villen in unterschiedlichsten Baustilen zu entdecken sind: Landhausstil, Renaissancestil, Klassizistisches, Neugotisches - hier haben sich einst reiche Gießener Bildungsbürger ihre architektonischen Träume erfüllt. Und Leute wie Christel und Karl Günther Schäfer wissen diese Schätze heutzutage zu heben: Die Eheleute hatten 1978 aus der ehemaligen Baptistenkirche in der Gartenstraße 13 eine schmucke Galerie gemacht.

Der erste Tankwart der Weltgeschichte

Auch der heutige Besitzer der Villa Ockel, der seit Jahren regelmäßig aus den Niederlanden nach Gießen anreist, um mit eigenen Händen die Villa in der Gartenstraße zu renovieren, schätzt die historische Bausubstanz. Zur Geschichte der Villa Ockel, die wie ein kleines Renaissanceschloss wirkt, hat Jutta Failing schon seit Längerem recherchiert und Erstaunliches herausgefunden. Denn Bauherr war um 1893 Willy Ockel. »Er war sicher Apotheker«, sagt Failing und habe die berühmte Stadtapotheke in Wiesloch betrieben. In der hatte Bertha Benz auf ihrer legendären ersten Autofahrt im Jahre 1888, als ihr das Benzin ausging, einige Liter des Reinigungsmittels Ligroin gekauft, das als Kraftstoff für den kleinen Einzylindermotor mit seinen knapp 3 PS diente. Nur so konnte sie die Fahrt fortsetzen. »Willy Ockel war also der erste Tankwart der Weltgeschichte«, sagt Failing mit einem Schmunzeln. Nur warum er ausgerechnet als Ruheständler nach Gießen gekommen war, hat sie bislang noch nicht herausfinden können. Fest steht nur, dass er Baumeister Carl Seiler mit dem Bau seines Hauses beauftragt hatte, der damals schon das Braunfelser Schloss in Stand gesetzt hatte. Und klar ist auch, dass in alten Adressbüchern Gießens der Name Ockel immer wieder auftaucht. Failing hofft nun, dass vielleicht Nachfahren Willy Ockels ihr diesbezüglich weiterhelfen können.

Gästebuch der Promis gesucht

Failing wird bei den Führungen immer mal wieder andere Themen ansprechen bzw. an den Orten in den Fokus stellen. Außerdem will sie von der jüngeren Gießener Geschichte aus den Wirtschaftswunderjahren erzählen und den Blick auf die »Achse des Mondänen« richten, die für sie gedanklich am Stadttheater beginnt. Sie erzählt von der am heutigen Dachcaféstandort gelegenen Weinstube mit Gartenwirtschaft und Kolonialwarenhandel der Familie Seibel, deren 2022 verstorbener Sohn Claus Seibel als Fernsehjournalist Karriere machte.

Aber auch von den Stars aus Gießens glanzvoller Kinozeit, die etwa zu Filmpremieren im 1951 eröffneten »Roxy« oder zu Auftritten in der Kongresshalle anreisten und im Hotel am Ludwigsplatz logierten. Diese Gegend war »weit mehr als eine Wirtschaftswunderecke, auch wenn man heute nicht mehr viel davon sieht«, betont Failing. Und hofft auf Tipps: »Es gibt offenbar noch ein Gästebuch der Filmstars/Promis vom Hotel am Ludwigsplatz ... vielleicht meldet sich jemand dazu.«

Sie hat natürlich auch Geschichten aus längst vergangener Zeit parat, erzählt etwa vom für seine originellen Kinderfotos bekannten Fotoatelier Zimmer. Hier, an der Ecke Löberstraße (heute »Clox-Parkplatz«), ließen Eltern einst nicht nur ihre Kinder in Kostümen und in einem riesigen Ei sitzend ablichten, sondern blickten um die Jahrhundertwende auch immer wieder Schauspieler des Stadttheaters in die Kameralinse.

»Mir geht es darum, das jeweilige Zeitgefühl zu dokumentieren«, betont Jutta Failing. Sie hofft, dass sie mit ihrer Tour dazu beitragen kann, dass der Stadtteil rund um den Nahrungsberg verstärkt als »Achse des Mondänen« und somit auch »Gießen als Villenstadt« wahrgenommen werden. Und davon wird sie sicher viele Teilnehmer ab April 2023 bei ihrer neuen Stadtführung »Mondänes Gießen« überzeugen können.

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Der Blick in die Gartenstraße zeigt zwei Pferdedroschken, die hintereinander stehen. Vermutlich handelt es sich um »Taxis« für Saalbau-Gäste. © Red
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Diese Postkarte zu Stein’s Garten ist 1907 gelaufen. Sie könnte aber auch deutlich älter sein, vermutet Jutta Failing. © Red

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