Gießener will Weltmarktführer Konkurrenz machen

Mit seiner ersten Idee scheiterte Pedro Scheidemantel noch. Doch nun ist er Mitglied eines Gießener Start-Up-Unternehmens, das es mit einem Weltmarktführer aufnehmen will.
Es gibt im arabischen Kulturraum diese wunderbare, zu mehr Gelassenheit verführende Vorstellung eines vorbestimmten Schicksals, dem niemand entkommen kann: Kismet. Vielleicht trifft dies auch auf Pedro Scheidemantel und sein Scheitern beim Gründer-Wettbewerb »Idea-Slam« der Justus-Liebig-Universität zu. Mit einer Armbanduhr für Kinder, mit der diese von ihren Eltern geortet werden können, überstand der in Brasilien geborene und mittlerweile eingebürgerte 28-Jährige nicht einmal die erste Runde. Wäre er nicht so enttäuscht gewesen, hätte er am nächsten Tag beim Start-Up-Wochenende des Regionalmanagements Mittelhessen seine Idee erneut vorgestellt. Und dann hätte er wohl niemals René Kränzlein und dessen Lebensgefährtin Lena Kasten kennengelernt. Sie und zwei weitere Mitstreiter sind nun Partner von Scheidemantel bei einem Start-Up, das schon bald eine - nach Ansicht der Macher - besondere Knie-bandage auf den Markt bringen könnte.
Marktreifes Produkt
»Active Shift« heißt diese Bandage; gegenüber ähnlichen Produkten soll sie einen Vorteil haben: Anstatt das Knie nur zu stabilisieren und ruhig zu stellen, soll sie therapierend wirken. Indem die Bandage das Rollen und Gleiten des Gelenks so beeinflusst, dass dieses bei der Bewegung über ein Druckkissen und ein spezielles Zugsystem mobilisiert wird. Kränzlein ist Physiotherapeut und hatte als Footballspieler nach einem Sportunfall extreme Knieprobleme. Um trotzdem weiter aktiv zu sein, entwickelte und testete er die Bandage. Das war bereits vor drei Jahren.
Kränzlein und Kasten hatten die Produktidee, gründeten 2017 auch eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts in Kassel, kamen aber anschließend nicht wirklich weiter. Bis sie Ende Mai am Start-Up-Wochenende des Regionalmanagements teilnahmen. Dort stellten sie zusammen mit 80 weiteren Teilnehmern in elf Teams ihre Idee für die Gründung einer Firma vor. Nur 60 Sekunden hatten sie Zeit, um die Besucher zu überzeugen. Bei Scheidemantel bissen sie anfangs auf Granit. »Deswegen habe ich ihnen keinen meiner drei Punkte gegeben«, sagt der 28 Jahre alte Promotionsstudent und lacht.
Erst später unterhielten sie sich in lockerer Runde. »Dabei hat mich René von seiner Idee total überzeugt«, sagt Scheidemantel.: Ein Produkt, das es bereits gibt und - wenn alles klappt - schnell auf den Markt gebracht werden kann, dazu noch mit einem Alleinstellungsmerkmal. Da spielte es keine Rolle, dass sich der 28-Jährige weniger mit Gelenken, sondern als Wirtschaftswissenschaftler in seiner Doktorarbeit gerade mit Hysterese beschäftigt - mit der Reaktion eines Marktes auf externe Einflüsse, nach deren Abklingen ein Preissystem nicht mehr in seinen Ausgangszustand zurückkehrt.
So fanden sich an jenem Maiwochenende plötzlich fünf Menschen mit fünf verschiedenen Lebenswegen in einem Raum wieder: Michael Raudies, Kränzlein, Kasten, Scheidemantel sowie Juri Kasdorf. Gemeinsam mit einem Mentor sammelten sie Ideen, wie sie Kränzlein und Kasten bei der Firmengründung auf die Sprünge helfen könnten. Die Chemie zwischen den Mitgliedern der Gruppe, sagt Scheidemantel, sei von Anfang an sehr gut gewesen. »Da gab es keine großen Egos im Raum, jeder hat dem anderen Teilnehmer Raum gelassen.« Das funktionierte so gut, dass Kränzlein und Kasten die drei vorübergehenden Helfer am Ende fragten, ob sie dauerhaft mit im Boot bleiben wollen.
Bereit für große Stückzahlen
Da hatte bereits die Jury den fünf Gründern bescheinigt, dass ihre Plan aufgehen könnte. Den ersten Platz für das »Active Shift« begründet Prof. Julie Woletz unter anderem mit der Marktreife des Produktes. Die Version der Kniebandage könne sofort in größeren Stückzahlen hergestellt werden. Auch seien weitere Varianten für andere Gelenke geplant. Einen Markt, sagt Woletz, gebe es auch: sowohl ältere Zielgruppen mit Gelenkproblemen als auch jüngere mit Sportverletzungen. Für Jens Ihle, Geschäftsführer des Regionalmanagements Mittelhessen, ist die Veranstaltung ein Zeichen dafür, »dass Mittelhessen ein guter Standort für Unternehmensgründungen ist«.
Nun könnte alles ganz schnell gehen. Scheidemantel hat Kontakt mit der Universität Gießen aufgenommen, um das Produkt unter wissenschaftlichen Bedingungen zu testen. Das ist nötig, um als medizinisches Produkt zugelassen zu werden. Parallel dazu wird ein Businessplan erstellt, rechtliche Fragen geklärt, und am Ende soll im Oktober eine GmbH stehen. Jedes der fünf Teammitglieder hat dabei eine bestimmte Rolle: Kränzlein kümmert sich um die Entwicklung, Kasten ums Marketing und Scheidemantel um die Finanzen. Außerdem hat der 28-Jährige die Koordination übernommen. »Weil ich mit einer halben Stelle mehr Zeit habe und meine Kollegen Vollzeit arbeiten.« Deswegen kommen die fünf auch nur jeden Sonntagabend zur Telefonkonferenz zusammen; werktags ist dafür kaum Zeit.
Die Firma wird sich in Zukunft mit dem Platzhirsch aus Thüringen messen müssen: Die Bauerfeind AG stellt medizinische Hilfsmittel her, hat über 2000 Mitarbeiter und einen Umsatz von 200 Millionen Euro (2015). Scheidemantel zuckt mit den Schultern. »Niemand will ein Unternehmen gründen, um eine entspannte Zeit zu haben. Man will doch Action.« (Foto: pm)