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Gießener Waldkindergarten: In der Natur zurück zu den Wurzeln

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Von: Christoph Hoffmann

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Kein Strom, kein fließendes Wasser: Der Alltag der Kinder des Gießener Waldkindergartens spielt sich im Freien ab – zwischen Bäumen und Wegen auf dem Schiffenberg.

Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung. Daher macht es den Jungs und Mädchen aus dem Waldkindergarten am Schiffenberg auch nichts aus, dass es wie aus Eimern schüttet. Wofür sonst haben ihre Eltern sie heute Morgen in Regenjacken und Gummistiefel gepackt? Außerdem ist Regen ein wunderbares Spielzeug. Zumindest, wenn man ausreichend Phantasie hat. Kurzerhand richten die Kinder eine Küstenwache ein. Kita-Leiterin Regina Appel hievt zwei Kanister mit gesammelten Regenwasser auf den Bollerwagen und steuert eine Anhöhe an. Die Kinder haben hier zuvor einen kleinen Kanal gegraben. »Wasser Marsch«, ruft Appel und kippt die Kanister aus. Unter den staunenden Blicken der Kinder bahnt sich das Wasser seinen Weg. Jonah schnappt sich eine Schaufel und beseitigt ein Hindernis. Das Wasser fließt bis in den Hafen. Die Kinder nicken zufrieden. Die Küstenwache hat ihren Job erledigt. +++ Hier gibt es alle Teile der Kita-Serie zum Nachlesen +++

Man hätte den Waldkindergarten auch bei schönerem Wetter besuchen können. Bei strahlendem Sonnenschein, wenn das Licht auf den Blättern tanzt und die Kinder in T-Shirts auf der trockenen Lichtung toben. Aber das, was einen Waldkindergarten ausmacht, wird bei einem ungemütlichen Regentag viel deutlicher. Denn Wetter ist ein wunderbares Unterrichtsmaterial. Lernen im Morgenkreis

Appel und ihre beiden Kolleginnen rufen die Kinder zum Morgenkreis zusammen. Ein festes Ritual, betont die Kita-Leiterin. »Die Kinder sprechen dann über den Tag, singen Lieder und erzählen, was sie gut oder nicht so gut finden.« Und Appel bezieht an diesem Morgen auch das Wetter mit ein. »Warum ist Regen wichtig?« Die Arme der Kinder schnellen in die Höhe: »Weil die Pflanzen es zum wachsen brauchen.« Aufgeregt berichten die Kinder, dass sie mit Regenwasser schon den nahe gelegenen Froschteich aufgefüllt und im Sommer die von einem Kita-Vater geschreinerten Hochbeete bewässert haben. Die kleine Helene überlegt einen Moment, dann sagt sie: »Wasser ist wertvoller als Gold.« Neue Gruppe ab Frühjahr 2018

Nach dem Morgenkreis zieht es die Jungs und Mädchen in verschiedene Richtungen des Areals. Während die einen aus Erde einen Kuchen backen und die anderen einen alten Baumstamm in ein Piratenschiff verwandeln, erzählt Appel ein wenig über die Einrichtung: Neben ihr gebe es noch eine Pädagogin in Vollzeit, eine in Teilzeit sowie einen Jahrespraktikanten, die sich um die bis zu 20 Kinder kümmern. Eröffnet wurde die Kita vor drei Jahren, im Frühjahr 2018 wird eine zweite Gruppe mit Platz für 20 Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren auf dem Grundstück errichtet. In einem Bauwagen sollen die Kinder essen, ruhen und spielen können. Auch in der neuen Gruppe werde die Achtsamkeit gegenüber aller Lebewesen ein Grundsatz sein, versichert Appel.

Trotz der vergleichsweise einfachen Einrichtung biete der Waldkindergarten alles, was auch eine klassische Einrichtung habe. »Wir verfolgen ganz klar die Ziele des hessischen Bildungsplans«, betont Appel. »Nur die Vorgehensweise ist ein bisschen anders.« Während Kinder aus normalen Kitas erste Mathematikaufgaben aus einem Heft lernen, können sie im Wald einfach die Äste eines Baumes zählen. Was gibt 2 plus 3? Mit fünf Tannenzapfen in der Hand ist die Aufgabe kinderleicht. »Wir haben hier auch schon selber eine Wippe gebaut, was die Balance der Kinder fördert. Oder aber Musikinstrumente«, sagt Appel. Zudem seien bereits mehrfach musikalische Eltern in den Wald gekommen und hätten auf ihren Instrumenten gespielt. Tuben und Bratschen ertönen also häufiger im Gießener Stadtwald.

Wir verfolgen ganz klar die Ziele des hessischen Bildungsplans

Leiterin Regina Appel  

Und eine Glocke. »Moment«, ruft Appel und eilt zu der mit Rindenmulch gefüllten biologischen Toilette. »Da die Kita weitläufig ist, haben wir diese Klingel angebracht. Die Kinder können an der Kordel ziehen, wenn sie fertig sind«, sagt Appel, während sie dem Jungen beim Schließen seiner Hose hilft. Bei Regen in die Holzhütte

Als der Regen immer heftiger wird, zieht es die Kinder in die kleine Holzhütte. »Die haben Schüler der Theodor-Litt-Schule gebaut«, sagt Appel. Die Regale sind gespickt mit Büchern und Fotoalben, in denen die Erlebnisse der vergangenen drei Jahre dokumentiert sind. Sollte es mal kälter werden, steht ein kleiner Holzofen bereit. Wenn es dauerhaft stürmt oder das Thermometer in den Minusbereich fällt, müssen aber auch die tapfersten Kinder in ein sicheres Domizil. »Wir haben eine Kooperation mit der Pestalozzischule«, sagt Appel. Aber auch bei gutem Wetter besuchten die Waldkinder einmal in der Woche die dortigen Erstklässler. »Wir gehen dann auch zusammen ins Mathematikum, ins Theater oder auf den Sportplatz. Damit die Kinder mal etwas anderes sehen als den Wald.«  

Drei Fragen an...

Wald-Kita-Mutter Nadine Becker

Warum haben Sie Ihr Kind in einen Waldkindergarten gegeben? Nadine Becker: Ein Hauptgrund war, dass Kinder dort mit allen Sinnen die Natur kennenlernen. Ich denke, die Kleinen brauchen in zweierlei Hinsicht Raum: Sowohl im Sinne von Platz, um ihren Bewegungsdrang auszuleben, als auch zur kreativen Entfaltung. Diese Bedingungen sind meiner Meinung nach in einer normalen Kita zu wenig gegeben. Die Räume sind vergleichsweise klein und durch die vorhandenen Spielsachen ist vieles vorgegeben. Im Wald können sie dagegen ihrer Fantasie freien Lauf lassen – da wird ein gefällter Baum zum Piratenschiff, ein Baumstumpf zum Kochtopf. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Becker: Nur gute, obwohl ich anfangs auch etwas skeptisch war, meine Kinder im Winter in die Kälte zu schicken. Doch diese normalen Elternängste sind unbegründet. Die Kinder bewegen sich, sind an der klaren, frischen Luft. Und die Ansteckungsgefahr ist viel geringer als in geschlossenen Kita-Räumen. Extrem positiv fällt mir zudem das Sozialverhalten auf. Die Waldkinder sind Teamplayer, weil sie draußen ganz anders aufeinander acht geben müssen.# Welche Nachteile sehen Sie gegenüber konventionellen Kitas? Becker: Da muss ich wirklich überlegen. Eigentlich nur die schmutzige Kleidung, denn ein Waldkind kommt meist mit herrlich viel Dreck nach Hause (lacht). Und da wären noch die höheren Kosten für die Ausstattung – Matsch-Kleidung, Schuhe und Rucksack in doppelter Ausführung.

Bis auf diesen einen Tag in der Woche bleiben die Kinder aber unterm Blätterwald des Schiffenbergs – ganz zur Freude von der gelernten Umweltpädagogin Appel. »Das ist auf jeden Fall ein Traumjob«, sagt die Gießenerin, die zuvor viele Jahre lang Leiterin des Kinderhauses im Alten Wetzlarer Weg gewesen ist. Schon hier zeigte sich Appels Herz für die Natur. Die Einrichtung wurde 2003 unter ihrer Leitung mit dem städtischen Umweltpreis ausgezeichnet. Zudem hat Appel das Kinderbuch »Komm in den Garten der Bäume« veröffentlicht, dass den Kindern den Botanischen Garten näherbringen soll. Anbindung nicht optimal

Die Waldkita scheint die logische Konsequenz zu sein. »Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen«, betont Appel daher auch. Kein Grund zu meckern? Die Gießenerin überlegt einen Moment: »Die Anbindung könnte besser sein. Früher habe ich alles mit dem Rad gemacht, für die Fahrt zum Schiffenberg und die Materialbeförderung musste ich mit jedoch ein Auto kaufen.« Aber Appel will das nicht zu hoch hängen. Denn wie sagte Thoreau noch gleich? »Wer Fehler finden will, findet sie auch im Paradies.«

Am kommenden Dienstag geht unsere Kita-Serie in die nächste Runde. Thema: die unterschiedlichen Träger in der Kindergartenlandschaft.

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