Gießener Stadtverordnetenvorsteher Joachim Grußdorf: Nicht immer bis Mitternacht tagen

Heute vor einem Jahr begann mit der ersten Sitzung die aktuelle Wahlperiode des Stadtparlaments. Im Interview spricht der erste grüne Gießener Stadtverordnetenvorsteher Joachim Grußdorf über seine Lehren aus einer missglückten Sitzung, die jungen Grünen, immer mehr Drucksachen und den Blick von oben.
Herr Grußdorf, Sie haben mittlerweile acht Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung geleitet. Gibt es etwas, das Sie komplett überrascht hat?
Ich kannte die Arbeit des Stadtverordnetenvorstehers bislang nur aus der Perspektive des Stadtverordneten. Was mir nicht bewusst war, ist, wieviel Arbeit im Hintergrund mit dem Amt verbunden ist. Für mich ist es noch günstig. Als Ruheständler habe ich Zeit. Die Tätigkeit macht mir auch viel Spaß. Aber alle Achtung vor den Kollegen, die dieses Ehrenamt neben ihrem Beruf ausgeübt haben.
Wie ist das, wenn man da plötzlich oben sitzt und muss unten alles im Auge behalten?
Das war natürlich gewöhnungsbedürftig, vor allem auch in den großen Sälen, in die wir wegen Corona ausweichen müssen. Das ist deutlich weniger übersichtlich als im Parlamentssaal im Rathaus. Und dann kam diese denkwürdige Sitzung im vergangenen September in Allendorf mit der schiefgelaufenen Wahl des ehrenamtlichen Magistrats, die eine Reihe von Konsequenzen für meinen Stil hatte.
Inwiefern?
Diese Learning-by-doing-Erfahrung hat gezeigt, dass ich mich noch kleinschrittiger auf die Sitzungen und Tagesordnungspunkte vorbereiten muss. Dazu gehört ein kooperatives Arbeiten mit dem Präsidium. Ich habe darum gebeten, dass bei den Sitzungen in den großen Sälen ein/e Stellvertreter/in mit oben sitzt, damit wir die Übersicht behalten. Dieses Vorgehen auch in der Vorbereitung der Sitzungen hat sich bewährt. Es hat sich Routine eingestellt.
Die Sitzungsleitung hat ja etwas von Frontalunterricht. Es fällt auf, dass von den letzten fünf Stadtverordnetenvorstehern vier Lehrer waren. Zufall oder Absicht?
Ach ja (lacht)? Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Mein Vorgänger Frank Schmidt, der die Sitzungen geleitet hatte, als es mit Corona losging, hat ja gezeigt, dass man kein Lehrer sein muss, um das Amt auszuüben. Und schon gar kein Oberlehrer.
Wie haben Sie Ihre Aufgabe gesehen, als Sie das Amt angetreten haben?
Ich sehe mich als neutraler Moderator, der die Interessen und Rechte der gewählten Stadtverordneten auch gegenüber dem Magistrat vertritt und wahrt und Wert darauf legt, dass der Umgang untereinander respektvoll bleibt. Es soll gestritten werden, auch hart in der Sache, aber wir sollten anständig miteinander umgehen. Das ist mein Anspruch an dieses Amt. Ich habe bislang keine Entgleisung wahrgenommen.
Im Stadtparlament sind seit April 2021 über 2100 Drucksachen behandelt worden, Anfragen und Anträge des Magistrats und der Fraktionen. Das sind fast 400 mehr als zu gleichen Zeitraum der letzten Wahlperiode. Ist das Ausdruck einer lebendigen Debatte oder schon ein Anzeichen für eine Selbstblockade der Stadtverordnetenversammlung?
Man muss einfach sehen, dass wir mehr Fraktionen haben und mit Gigg/Volt eine Gruppierung dazugekommen ist, die viel einbringt. Auch aus an anderen Fraktionen kommt gerade von den jungen Kollegen viel Input. Dieses Engagement ist erst einmal positiv zu bewerten. Andererseits wünsche ich mir, dass fokussierter debattiert würde. Da sollten wir alle ein Interesse daran haben, schließlich machen wir das ehrenamtlich. Es muss nicht jede Sitzung bis Mitternacht gehen, und nicht jede Tagesordnung muss über 40 Tagesordnungspunkte haben. Die letzte war um 23 Uhr beendet, und wir haben den Antragsstau abgearbeitet. Es geht also.
Es sollte im Interesse der Fraktionen sein, dass Beschlüsse vom Magistrat umgesetzt werden bzw. umgesetzt werden können. In den Ortsbeiräten gibt’s den Tagesordnungspunkt Ergebniskontrolle. Wäre es nicht sinnvoll, diese Praxis zu übernehmen?
Das ist ein Hinweis, den ich notiert habe und im Ältestenrat mal ansprechen werde.
Die Grünen sind mit einer sehr jungen Fraktion ins Stadtparlament eingezogen. Wie steil ist die Lernkurve Ihrer jungen Kollegen? Manch einer wirkt bereits desillusioniert.
Erst einmal ist es eine meiner schönsten politischen Erfahrungen der letzten Jahre, dass sich junge Menschen, die meine Enkel sein könnten, auf den Weg gemacht haben, politisch aktiv zu werden. An unseren jungen Leuten schätze ich in hohem Maße, dass sie sich schnell in Sachthemen einarbeiten. Was mich beeindruckt, ist, wie die jungen Stadtverordneten fraktionsübergreifend miteinander umgehen. Da reißt der Gesprächsfaden nie ab, egal wie weit sie in der Sache auseinanderliegen. Als desillusioniert nehme ich keinen wahr. Sicher gibt es eine Ungeduld, weil es in der Politik lange dauert, bis Dinge umgesetzt werden. Das geht aber auch mir und anderen Älteren so.
Die Corona-Pandemie und der Ukraine-Krieg berühren existenzielle Fragen, die mit Kommunalpolitik erst einmal nichts zu tun haben. Sie haben vor der letzten Sitzung ein paar Worte zum Krieg in der Ukraine gesprochen und um eine Schweigeminute gebeten. Inwieweit ist es Ihnen wichtig, diese Themen anzusprechen?
Mir ist es schon wichtig, dass ich als Repräsentant der Stadt diese Themen anspreche und deutlich mache, dass wir uns mit der angegriffenen Ukraine solidarisieren müssen. Es war mir auch eine Ehre, dass ich bei der einen Kundgebung auf dem Rathausplatz sprechen durfte.
Was wünschen Sie sich für den Rest der Wahlperiode?
Als Stadtverordnetenvorsteher wünsche ich mir, dass wir als Demokraten in und außerhalb des Parlaments anständig miteinander umgehen. Als Stadtverordneter der Grünen wünsche ich mir natürlich, dass wir bei den großen Themen, die wir uns in der Koalition vorgenommen haben wie Klimaschutz, Verkehrswende und sozialer Wohnungsbau, vorankommen und dafür breite Mehrheiten finden.
Zur Person: Joachim Grußdorf
Der 70-jährige frühere Förderschullehrer und Rektor ist seit 2011 als Stadtrat und Stadtverordneter in der Gießener Kommunalpolitik engagiert. Grußdorf, der als Kind aus der DDR flüchtete, gehört seit 1993 Bündnis 90/Die Grünen an.