Schlagabtausch zu Greensill-Skandal in Gießen - „Die zehn Millionen Euro sind weg“

Im Stadtparlament hat die Aufarbeitung der Affäre um die vom Verlust bedrohten Geldanlagen bei der Greensill-Bank begonnen. Ein brisanter Vorwurf gegen den Magistrat steht weiterhin im Raum.
Gießen – Seinen ersten Auftritt in einem Gremium der Gießener Stadtverordnetenversammlung hatte Günther Helmchen mit viel Klebstoff und Papier vorbereitet. Am Rednerpult im Sitzungssaal des Rathauses entfaltete der Freie Wähler am Dienstagabend eine vier Meter lange Schlange aus 100-Euro-Scheinen, um den drohenden Verlust der zehn Millionen Euro, die die Stadt bei der mittlerweile insolventen Greensill-Bank angelegt hatte, zu verdeutlichen. Natürlich waren die Scheine nicht echt, sondern Kopien. An eine Rückkehr des echten Gelds glaubt Helmchen nicht. »Machen wir uns nichts vor: Die zehn Millionen Euro sind weg«, sagte der Parlamentsneuling.
So schnell wollen Magistrat und Stadtparlament die Flinte nicht ins Korn werfen. Einstimmig bei Enthaltung von CDU und AfD beauftragte der Haupt- und Finanzausschuss in seiner ersten Sitzung nach der Kommunalwahl die Stadtregierung damit, das Insolvenzverfahren zu beobachten und Schadenersatzansprüche gegenüber der staatlichen Bankenaufsicht BaFin, deren Wirtschaftsprüfern und der Ratingsagentur Scope zu prüfen.
Ferner wurde beschlossen, eine interfraktionelle Arbeitsgruppe einzurichten, die mit Unterstützung der Kämmerei Empfehlungen erarbeiten soll, ob und wie die Stadt künftig ihre Überschüsse anlegen soll. Die Bandbreite der entsprechenden Möglichkeiten hat die Kämmerei in einem »Diskussionspapier« zusammengefasst, das der Ausschuss zur Kenntnis nahm. Der erste konkrete Vorschlag zur künftigen Anlagestrategie kam von Frank Schuchard (Fraktion Gigg/Volt). Er regte an, Anlagerisiken für die Stadt genauer zu beschreiben als bisher und Geld nur bei nachhaltig operierenden Banken anzulegen.
Schuldfrage bestimmt Gießener Debatte um Greensill-Skandal
Die Diskussion indes wurde über weite Strecken von der Schuldfrage bestimmt. Mit dem Diskussionspapier zur Gestaltung der städtischen Anlagerichtlinie lenke der Magistrat von »seiner eigentlichen Verantwortung« ab, sagte FDP-Fraktionschef Dominik Erb. »Nicht die Richtlinie war das Problem, sondern die Fahrlässigkeit, mit der hier Geld angelegt wurde«, sagte Erb weiter. In der »Fachwelt« habe es genügend Warnungen vor Greensill gegeben. In diesem Zusammenhang warf Martin Schlicksupp (CDU) die Frage auf, ob die Kämmerei, als die Geldanlagen im Oktober und Dezember 2020 getätigt wurden, die Übersicht über den Finanzmarkt verloren hatte.
Erb wie auch Heiner Geißler, Fraktionsvorsitzender der Freien Wähler, erneuerten ihren Vorwurf an den Magistrat, gegen die Richtlinie verstoßen zu haben, da die Geldanlage auf Grundlage eines Ratings der Agentur (Scope) vorgenommen worden sei, die in der Richtlinie nicht erwähnt werde, während die dort genannten Agenturen (Standard&Poors, Moodys) die Greensill-Bank nie bewertet hätten. Diese Kritik ist brisant, denn sie beinhaltet den Vorwurf der Dienstpflichtverletzung und mithin der Untreue.
Stadtkämmerin Dietlind Grabe-Bolz (SPD) und Kämmereileiter Dr. Dirk During widersprachen erneut. Die Erwähnung der beiden Agenturen in der Richtlinie habe der Festlegung auf Ratingklassen gedient, nicht der auf Agenturen. »Das Wort Ratingagentur kommt in der Richtlinie gar nicht vor«, sagte During.
Geißlers Vorwurf an die Kämmerei, ihr habe 2019 beim Einstieg in das Anlagegeschäft schlicht die Kompetenz dafür gefehlt, konterte SPD-Fraktionsvorsitzender Christopher Nübel mit Hinweis auf die Zustimmung der FW zur Anlagenrichtlinie Ende 2018. »Wenn Sie der Überzeugung waren, dass die Kämmerei das nicht kann, hätten Sie der Richtlinie nicht zustimmen dürfen«, sagte Nübel.
Greensill-Skandal in Gießen: „Übernehme politische Verantwortung“
Abgelehnt worden war der Einstieg ins Anlagegeschäft, das durch die Erwirtschaftung von Überschüssen im Stadthaushalt erst ab 2019 praktiziert wurde, seinerzeit nur von der Fraktion Gießener Linke, die in die Diskussion am Dienstag nicht eingriff.
Kämmereileiter During hatte zuvor die Abläufe vor dem Abschluss einer Geldanlage geschildert. Danach führe das Amt eine Liste mit bekannten Banken und Maklern, die »standardmäßig« aufgefordert würden, Angebote abzugeben, die dann ausgewertet würden, ehe der Zuschlag erfolge.
»Niemand mehr als ich und der Kämmereileiter bedauern diesen Verlust, gerade weil wir unseren Haushalt aus einem Tal der Tränen herausgeführt hatten«, beteuerte OB Grabe-Bolz. Mit Blick auf die BaFin sprach sie von einem »Versagen sämtlicher Schutz- und Kontrollmechanismen«. Gegen Ende der gut einstündigen Debatte sagte sie: »Ich übernehme die politische Verantwortung, aber es sind uns keine Fehler unterlaufen«. Aussagen, die Volker Bouffier jun. (CDU) wörtlich protokollieren ließ.
Sonderausschuss einberufen
Einstimmig hat der Haupt- und Finanzausschuss auf Antrag der FDP beschlossen, einen Akteneinsichtsausschuss zur Greensill-Affäre zu installieren. Da in solchen Sonderausschüssen nur abgeschlossene Vorgänge untersucht werden dürfen, worauf der neue Ausschussvorsitzende Thiemo Roth (CDU) hinwies, muss sich die Akteneinsicht auf den Abschluss der beiden Geldanlagen im Oktober und Dezember 2020 beschränken. Wie es der Name sagt, bleibt die Ausschussarbeit auf die Einsicht von Akten beschränkt. Zeugen dürfen nicht gehört werden.