Gießener rettet Senioren aus den Fluten im Ahrtal

Zwei 80-Jährige aus dem Ahrtal werden vom Hochwasser schwer getroffen. Ein Gießener hilft ihnen. Das ist ihre Geschichte.
Helgard und Willi Kottusch sitzen in ihrer neuen Wohnung in der Gießener Sonnenstraße. Die Räume sind noch spärlich eingerichtet, man sieht, dass die Senioren gerade erst eingezogen sind. »Die Möbel sind bestellt, das dauert aber noch ein wenig«, sagt Willi Kottusch. Damit können die beiden aber leben. Was sie hinter sich haben, ist weitaus schlimmer. »Dass wir hier sind, haben wir Emanuel zu verdanken«, sagt Kottusch. »Er ist unser Retter.«
Willi Kottusch war einst ein bekannter Opernsänger. Sein zusätzlicher Handwerksberuf brachte ihm den Spitznamen »singender Fliesenleger« ein, mit dem er es sogar ins Fernsehen schaffte. Seine Helgard lernte er auf einem Konzert in Norderney kennen. Vor 20 Jahren zogen die beiden dann nach Bad Neuenahr. Die Eigentumswohnung sollte ihr Alterssitz werden. Am 14. Juli 2021 wurde dieser Traum unter Schlammmassen begraben.
Gießener rettet Senioren aus dem Ahrtal und holt sie nach Gießen
»Wir lagen im Bett, als es auf einmal einen lauten Knall gab«, sagt Willi Kottusch. Als er aus dem Bett aufgestanden sei, habe er bereits knöcheltief im Wasser gestanden. »Die Tür knallte auf und weitere Wassermassen schossen in die Wohnung«, sagt der 80-Jährige. Daraufhin seien die beiden in die oben gelegene Wohnung der Nachbarin geflüchtet. »Nur im Nachthemd, wir hatten kein Handy, keine Schuhe, gar nichts«, erzählt Helgard Kottusch. Dort oben verbrachten sie die Nacht, bis am nächsten Tag die Johanniter kamen - und Willi Kottusch ins Krankenhaus einlieferten. Der Senior leidet an Diabetes, seine Medikamente und Spritzen waren dem Schlamm zum Opfer gefallen. In der Folge erlitt er einen Herzinfarkt. »Ich wurde erst nach der dritten Reanimation wieder wach.«
Da er wegen der Operation verlegt wurde, wusste Helgard Kottusch drei Tage lang nicht, wo sich ihr Ehemann befindet. Andersherum war es genauso. Ihre Handys mit den eingespeicherten Nummern waren wie der Rest ihrer Habseligkeiten zerstört. Doch zum Glück hatten die beiden Senioren Emanuel Dayan.
Es ist eine ungewöhnliche Freundschaft, die Dayan und die Kottuschs verbindet. Mit seinen 33 Jahren könnte er ihr Enkel sein. Vielleicht ist das auch der Grund, warum sich die drei so verbunden fühlen. »Ich habe zwölf Jahre lang in Bad Neuenahr zwei Juweliergeschäfte betrieben«, erzählt der Gießener. Eines Tages hätten die Kottuschs eine Uhr zur Reparatur gebracht. »Mit der Zeit ist eine Freundschaft entstanden. Wir haben zusammen Mittag gegessen, abends ein Bierchen getrunken und uns besucht«, sagt Dayan und fügt an: »Ich habe mich bei ihnen immer zu Hause gefühlt.«
Hochwasser im Ahrtal: Zwei Tote im Haus der Kottuschs
Dayan ist gerade auf Geschäftsreise in Istanbul, als er von der Katastrophe im Ahrtal erfährt. »Ich habe sofort Freunde angerufen und sie gebeten, nach Helgard und Willi zu sehen.« Einer kämpfte sich durch den Schlamm, fand Helgard Kottusch bei der Nachbarin und brachte sie sofort in Dayans Wohnung nach Gießen. Ein anderer Helfer machte sich auf die Suche nach Willi Kottusch. Anfangs jedoch erfolglos. »Ich bin dann am nächsten Tag aus Istanbul zurück und selbst nach Bad Neuenahr gefahren. Dann haben wir auch erfahren, wo Willi ist.« Dayan musste sich als Sohn des Seniors ausgeben, um zu ihm zu gelangen. Auch ihn brachte er nach Gießen in seine Wohnung. Dort blieben sie zehn Tage, anschließend zogen sie in ein Hotel, bevor Dayan ihnen die Wohnung in der Sonnenstraße organisierte.
Dayan hat das Hochwasser ebenfalls hart getroffen, seine beiden Juweliergeschäfte sind zerstört. Und die Kottuschs haben ihr Zuhause verloren. Das Schlammwasser stand 1,60 Meter hoch in ihrer Wohnung, nichts war zu retten. Es hätte aber auch schlimmer enden können, sagt Willi Kottusch: »In unserem Haus sind zwei Menschen gestorben.«
Gießen als neue Heimat der Familie Kottusch aus dem Ahrtal
Mittlerweile hat sich das Paar mit ihrer Situation arrangiert. Doch gerade Helgard Kottusch beschäftigt das Erlebte sehr. »Man war so hilflos, ohnmächtig«, sagt sie. Nach der Frage, wie ihr Leben nun weitergeht, versagt ihr die Stimme. Tränen schießen in ihre Augen.
Mit 80 Jahren ein neues Leben anzufangen, ist nicht leicht. Das wissen die beiden. »Aber die Menschen in Gießen sind sehr nett zu uns«, sagt Willi Kottusch. Und mit Emanuel Dayan haben sie nicht nur ihren Lebensretter, sondern auch einen ersten guten Freund in der neuen Heimat. Denn das soll Gießen sein. »Wir gehen nicht zurück«, sagt Willi Kottusch bestimmt, »wir bleiben hier.«