Gießener Opfer und Täterinnen

Bilder über den Nationalsozialismus werden oft von Männern dominiert. Dabei finden sich unter den Opfern, Mitläufern und Tätern auch Frauen. Lehramtsstudierende der Uni Gießen haben nun unter der Leitung von Randi Becker in einer Broschüre Schlaglichter auf Frauen aus Gießen im Nationalsozialismus geworfen.
An die Gießener Pädagogin Hedwig Burgheim, die die Nazis in Auschwitz ermordeten, erinnert eine Bronzebüste in der Plockstraße. Eine mögliche Würdigung von Ria Deeg, die sich einen Namen als Widerstandskämpferin gegen das nationalsozialistische Regime gemacht hat, hat Anfang des Jahres für kontroversen Debatten in der Kommunalpolitik gesorgt. Trotz dieser beiden Beispiele: Viele Bilder über den Nationalsozialismus sind männlich dominiert. Dabei gab es natürlich auch unter den Frauen Opfer, Mitläuferinnen und Täterinnen. Lehramtsstudierende der Justus-Liebig-Universität (JLU) Gießen haben nun unter der Leitung der Dozentin Randi Becker eine Broschüre erstellt, die die Biografien von Gießener Frauen und deren Leben im Nationalsozialismus abbilden soll.
Gestapo-Agentin und Forscherin
Lokale Geschichte lebt davon, dass sie große historische Ereignisse begreifbarer machen kann, indem sie ihnen ein Gesicht gibt. Dies ist das Verdienst dieser 116-seitigen Arbeit, die aus einem Seminar der Grundwissenschaften im Lehramt an der JLU entstanden ist. Sie erhebt damit nicht den Anspruch einer Arbeit, an der eine Historikerin oder ein Historiker mehrere Jahre lang gearbeitet hat. Aber der Titel »Gießener Frauen: Opfer, Täterinnen und Mitläuferinnen im Nationalsozialismus« sei ein erster Aufschlag, der zu weiteren Recherchen anrege, sagt Becker. Sie promoviert an der Universität Passau und hat bereits 2020 ein Seminar zum Thema Frauen im Nationalsozialismus an der JLU angeboten - jedoch ohne lokalen Fokus. Dies hat Becker für das zweite Seminar im Sommersemester 2021 geändert.
Becker betont, wenn man an die NS-Zeit denke, sich in Schule oder Uni mit dem Thema beschäftige oder Filme sehe, sehe man meist Männer - als KZ-Häftlinge oder Zwangsarbeiter, als Soldaten, KZ-Aufseher, generell Männer in Uniform. So bleibe aber die Geschichte der Frauen in dieser Zeit ungeschrieben. Zu nur wenigen Frauen existierten ausreichend Quellen. Viele Bücher über Gießen im Nationalsozialismus erwähnten Frauen nicht oder höchstens in Fußnoten und Nebensätzen. Dabei gebe es bei den verfolgten und ermordeten Frauen so viele Biografien, die »erzählt und gehört werden müssten«. Becker betont: »Wir wollen diese Frauengeschichten sichtbar machen, und zwar nicht nur die der Heldinnen. Wir wollen einen Durchschnitt abbilden.«
Die 44 Studierenden und Becker haben im Stadt- und Universitätsarchiv nach Quellen gesucht, haben Arbeiten von Lokalhistorikern herangezogen und analysiert. So haben sie Geschichten von Frauen aus unterschiedlichen Gruppen zusammengetragen. Vorgestellt werden politisch Verfolgte, Gießener Jüdinnen, Sinti und Jenische, Lesben und Widerständlerinnen. Es geht aber auch um die NS-Sozialpolitikerin Käthe Petersen, die in Gießen während des Studiums in der Löberstraße wohnte und später die Entmündigung und Zwangssterilisierung von Frauen veranlasste, die laut NS-Ideologie als »asozial« galten. Oder um die Gestapo-Agentin Dagmar Imgart, die vor allem kirchlichen Widerstand überwachte und Oppositionelle denunziert haben soll, was in mindestens fünf Fällen zur Ermordung des Regimegegners geführt habe. Oder die »Rassenhygienikerin« Leonore Liebenam, die auch in Gießen zur Frage forschte, ob kranke Menschen und Menschen mit Behinderung getötet werden sollten. Damit, heißt es in dem Buch, habe sie »aktiv zur Legitimierung der Ermordung von Menschen im Nationalsozialismus« beigetragen. Es geht in der Broschüre zudem nicht nur um einzelne Frauen, sondern auch um Frauenorganisationen oder -gruppen.
Michelle Damm ist eine der Studierenden, die einen Beitrag für die Broschüre geschrieben haben. Sie studiert im neunten Semester Mathe und Deutsch auf Lehramt. Die 23-Jährige sagt, dass man beispielsweise im Schulunterricht angesichts der hohen Opferzahlen den Blick für einzelne Schicksale verlieren könne. Dabei seien es gerade diese Schicksale, die ein historisches Ereignis greifbar und verstehbar machten. »Es ist nicht so weit weg, wie man vielleicht denkt«, sagt sie. Becker ergänzt: »Wo man heute in der Neuen Bäue essen gehen kann, gab es früher das Bankhaus Herz und nach der Deportation der Familie die Ges-tapo-Zentrale.« Diese räumliche Nähe habe viele Studierende bewegt.
Karte für einen Stadtrundgang
Inspiriert von der Info-Schrift von Dagmar Klein zu Frauenorten in Gießen, findet sich auch in der Broschüre zu Frauen in der NS-Zeit eine Karte mit markierten Orten zu den vorgestellten Protagonistinnen. Gerade in der schulischen und außerschulischen Bildung könnte die Broschüre für Stadtrundgänge genutzt werden, sagt Becker.
Die Broschüre »»Gießener Frauen: Opfer, Täterinnen und Mitläuferinnen im Nationalsozialismus« ist in Kooperation mit dem Netzwerk für politische Bildung, Kultur und Kommunikation und mit Unterstützung des Landesprogramms »Hessen - aktiv für Demokratie und gegen Extremismus« sowie der Gemeinnützigen Stiftung der Sparkasse Gießen entstanden. Die Broschüre ist kostenlos erhältlich, unter anderem in der Tourist-Information. Außerdem werden Exemplare Schulen zugeschickt.