Gießener Nahverkehr auf dem Prüfstand: So fällt das Ergebnis aus

So schlecht wie der Gießener ÖPNV in mancher Debatte geredet wird, scheint er nicht zu sein. Der Zwischenbericht zum neuen Nahverkehrsplan nennt Stärken und Schwächen.
Gießen – Die spinnenartige Grafik auf der mittelhessischen Landkarte zeichnet eigentlich ein erfreuliches Bild von den Mobilitätsmöglichkeiten, die sich den Menschen in Gießen und Umgebung bieten. In viele Himmelsrichtungen führen dicke oder dickere dunkelblaue Striche, in weitere Richtungen sind sie immer noch hellblau. Die Abbildung im Zwischenbericht zum Gießener Nahverkehrsplan, der nach sieben Jahren derzeit fortgeschrieben wird, zeigt die »Reisezeitverhältnisse« zwischen dem Oberzentrum Gießen und den Städten und Kommunen, in die aus Gießen und von denen nach Gießen gependelt wird.
ÖPNV rund um Gießen: „Auch den wichtigsten Achsen konkurrenzfähige Alternative“
Verglichen von den Gutachtern der Planersocietät aus Dortmund, die auch den neuen Verkehrsentwicklungsplan im Auftrag der Stadt Gießen konzipiert, wurden die Reisegeschwindigkeiten zwischen Pkw sowie Bussen und Bahnen, wenn der Nutzer des ÖPNV am Berliner Platz startet oder dort ankommen will. Einberechnet wurde dabei auch die komplette »Wegekette« des ÖPNV von und zu den Haltestellen und Bahnhöfen und beim Auto die Parkplatzsuche. Ergebnis: »Auf den wichtigsten Achsen bietet des ÖPNV eine konkurrenzfähige Alternative zum Pkw.« Zu keiner Pendlerkommune biete der Nahverkehr ein Reisezeitverhältnis, das schlechter als »zufriedenstellend«. Für Menschen indes, die die Wahlfreiheit zwischen Auto, Bus oder Bahn haben und auf die es ankommen wird, wenn die vielzitierte Verkehrswende gelingen soll, sei eine nur zufriedenstellende Nahverkehrsverbindung »nur bedingt eine Alternative zum Auto«, heißt es weiter.
Wohlgemerkt geht es hier nur um das Kriterium der Zeit, die man für die Wege zur Arbeit, zum Einkaufen oder Freizeitbetätigungen bereit ist einzusetzen. Andere Vor- und Nachteile, die die verschiedenen Verkehrsmittel bieten, spielen bei dieser Betrachtung keine Rolle. Und was nutzt die günstigste Reisezeit, wenn Bus oder Bahn zu selten fahren. »Je weiter es aus der Stadt hinaus geht, desto geringer wird die Bedienungsqualität«, urteilt der Zwischenbericht bereits für den verhältnismäßig eng getakteten Bereich des Gießener Stadtbusverkehrs.
Gießens ÖPNV soll sich entwickeln: Schnellbusse und drittes Gleis gewünscht
Die »Erreichbarkeit« des Gießener Stadtzentrums, egal, mit welchem Verkehrsmittel, ist spätestens seit dem Beschluss des Stadtparlaments für den Verkehrsversuch am Anlagenring zum großen Thema geworden. So beharrt die Gießener Wirtschaft darauf, dass der Autoverkehr nicht eingeschränkt werden darf, solange der Nahverkehr keine »echte Alternative« zum Motorisierten Individualverkehr (MIV) darstellt. Davon indes sei man in Gießen »noch weit entfernt«, hieß es Mitte Dezember in einer Presseerklärung von IHK, Kreishandwerkerschaft und den BID-Vereinen nach einem Treffen mit Verkehrsdezernentin Gerda Weigel-Greilich (Grüne).
Dass der Magistrat selbst mit der überörtlichen Nahverkehrsanbindung Gießens (noch) nicht zufrieden ist, machen die im Anhang des Berichts veröffentlichten Stellungnahmen der Stadt zum Regionalen Nahverkehrsplan des RMV und zum Nahverkehrsplan des Zweckverbands Oberhessischer Verkehrsbetriebe (ZOV) deutlich. Beim auf Gießen ausgerichteten Regionalbusverkehr gebe es einen »erheblichen Verbesserungsbedarf im Fahrplanangebot«. Die Notwendigkeit einer Verkehrswende und der »vom MIV dominierte Gießener Einpendlerverkehr« müssten bei der Neuausschreibungen von Regionalbuslinien berücksichtigt werden, schrieb die Stadt. So wurde moniert, dass beide Pläne keine Einrichtung zusätzlicher Express- und Schnellbuslinien mit Ziel Gießen vorsehen. Auch beim Wunsch nach dem »dritten Gleis« auf der Main-Weser-Bahn zwischen Friedberg und Gießen argumentierte die Stadt mit der Verkehrswende (mehr zur verkehrspolitischen Debatte in Gießen hier)
Kritisiert in dem Zwischenbericht zum NVP, der im Wesentlichen eine Bestandsaufnahme ist, wird die Verständlichkeit des Busnetzes. Insbesondere für Gelegenheitsnutzer oder Neukunden könne das Netz, dem es an einer klaren Systematik fehle, »unübersichtlich wirken«. So gebe es keine klare Unterscheidung zwischen Stadt- und Regionalbussen. Die Notwendigkeit, dass Regionalbusse innerstädtische Aufgaben übernehmen, wird im Interesse eines schnelleren Transports von Pendlern, deren Ziel die Innenstadt ist, hinterfragt. Was die innerstädtische Infrastruktur des ÖPNV betrifft, sehen die NVP-Planer unter anderem Nachholbedarf bei der Busbeschleunigung durch zusätzliche Sonderfahrspuren.
Gießener Marktplatz ein Vorteil für ÖPNV
Positiv wird vermerkt, dass der Stadtbus von vielen Ampeln bevorrechtigt wird und es mit dem Marktplatz einen Busbahnhof direkt an der Fußgängerzone gibt. Dies sei ein Vorteil gegenüber dem Auto. Wünschenswert wäre die Verlängerung der Bahnhofsunterführung zur Lahnstraße. Ein Busbahnhof dort böte die Möglichkeit, mehr Buslinien direkt an den Bahnhof heranzuführen und die Bahnschranke in der Frankfurter Straße zu umfahren.
Mit einer rund 90-prozentigen Anbindung der Wohnbevölkerung an den ÖPNV verfüge Gießen insgesamt über eine »gute bis befriedigende Erschließungsqualität«, lautet ein Fazit. Nächste Schritte auf dem Weg zu einem neuen NVP werden unter anderem eine Zielkonzeption und ein Maßnahmenkatalog sein. (Oliver Schepp)
20 000 Fahrgäste nutzen die Linie 1 in Gießen
Mit fast 20 000 Ein- und Ausstiegen täglich ist die 1 die am stärksten genutzte Stadtbuslinie, gefolgt von der 5 mit fast 17 000 und der 2 mit gut 12 000. Zahlen, die 2019 noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie erhoben wurden und im NVP-Zwischenbericht stehen. Mit fast 15 000 Ein- und Ausstiegen ist der Berliner Platz der frequentierteste Bushaltepunkt, gefolgt vom Bahnhof (gut 8000) und dem Marktplatz (6000). Die meisten Abfahrten gibt es über 600 am Bahnhof, weil die Züge mitgezählt werden. 345 sind es am Berliner Platz.