Wirbel nach Demo in Gießen: Judenpogrom verharmlost?

Wirbel um die Rede eines Kommunisten bei der Demonstration am Samstag gegen Rechtsextremismus in Gießen. Das Bündnis »Gießen bleibt bunt« distanziert sich.
Gießen - Welche Gruppe der Bevölkerung war die Zielscheibe der Ausschreitungen am 9. und 10. November 1938 im Deutschen Reich? Wer in der Schule einigermaßen aufgepasst hat, sollte die Antwort kennen. Es waren die Juden. Ihre Synagogen wurden angezündet und zerstört, ihre Geschäfte wurden geplündert, sie wurden verprügelt, in Konzentrationslager verschleppt und gefoltert, hunderte Menschen jüdischen Glaubens kamen ums Leben.
In der Welt der politischen Ideologien finden historische Ereignisse freilich ganz eigene Deutungen. »Wir sehen in diesem wie wahnhaft anmutenden Pogrom und seinen Folgen vor allem einen Angriff auf den Hauptfeind des Faschismus: die revolutionäre Arbeiterklasse«, heißt es in einer Erklärung der Kommunistischen Organisation (KO), die im vergangenen November aus Anlass des 81. Jahrestags der sogenannten Reichspogromnacht verbreitet wurde. Ein Gießener Vertreter der KO teilte diese Verlautbarung auf seiner Facebookseite.
Am vergangenen Samstag soll der Kommunist bei der Demonstration gegen Rechtsextremismus nun für einen »antisemitischen Eklat« gesorgt haben, wie die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) in einer Presseerklärung schreibt. Auch das Bündnis »Gießen bleibt bunt«, das zu einer Kundgebung auf dem Platz vor dem Unihauptgebäude aufgerufen hatte, geht auf Distanz zu dem Redner und spricht von einer »Verharmlosung des früheren und heutigen Antisemitismus«.
Demo in Gießen: In den »deutschen Genen« sei kein Judenhass zu finden
Inhalte der Rede, die bei einem Zwischenstopp vor der Galerie Neustädter Tor gehalten wurde, wurden erst am frühen Samstagabend durch Veröffentlichungen einer linken Gruppe aus Koblenz bei Facebook und Twitter bekannt. Die Gruppe hatte an der Demonstration teilgenommen, die vom Bahnhof zum Unihauptgebäude führte. Danach sagte der Redner der KO, bei der es sich um eine Abspaltung der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) handelt, beim Judenpogrom im November 1938 habe es sich um eine »Inszenierung« der Nazi-Eliten gehandelt, die keinen Rückhalt in der Bevölkerung gefunden habe. In den »deutschen Genen« sei kein Judenhass zu finden.
In welchem inhaltlichen Zusammenhang diese Worte fielen, ist bislang unklar. Die Veranstalter der laut DIG »überwiegend von linksradikalen Kräften« getragenen Demonstration gegen »Faschismus, Armut, Krieg und Krise« haben sich zu den Vorwürfen bislang nicht geäußert, der Redner selbst reagierte bei Facebook auf die Kritik nur mit dem Satz: »Wer von Faschismus redet, darf zum Kapitalismus nicht schweigen.«
Demo in Gießen: Bündnis »Gießen bleibt bunt« distanziert sich
Im Wesentlichen geht es traditionellen Kommunisten wie aus der DKP oder KO bei der Betrachtung der Nazizeit stets darum, die »Arbeiterklasse« bzw. die Kommunisten als erste Opfergruppe voranzustellen, noch vor den Juden. Im besagten Beitrag der KO vom November versteigt sich der Autor zur These, dass die Nationalsozialisten 1938 quasi nur geübt hätten. Es sei darum gegangen, »an der jüdischen Minderheit beispielhaft jene Entrechtung zu proben, welche darauf folgend die ganze Arbeiterklasse zu spüren bekam«. Auch die nach dem Krieg gerne gebrauchte Schutzbehauptung, die Täter des Novemberpogroms seien keine Bürger aus der eigenen Stadt gewesen, sondern »Auswärtige«, findet sich in dem Beitrag unter der Überschrift »Keine Tat des Volkes«.
Das Bündnis »Gießen bleibt bunt« betont, dass es keinen Einfluss auf den Ablauf der Demonstration durch die Stadt hatte und fügt hinzu: »Auf der von uns veranstalteten Kundgebung sind keine derartige Aussagen getroffen worden.«