In Gießen stehen sehr viele Bauten auf Stelzen – aber warum eigentlich?

Seit Jahrhunderten werden Bauten in Gießen häufig auf Stelzen gestellt. Ist die Stadt mit dem Wasser im Namen feuchter als andere? Die GAZ gibt Antworten.
Gießen - Bamm, ba-bamm, ba-bamm. Die Überschrift in der GAZ gab kürzlich die Geräuschkulisse wieder, die seit Februar den Alltag in Gießen begleitet. Für eine Halle des Logistikzentrums VGP-Park am Alten Flughafen werden noch bis Anfang Mai 1300 Stahlbetonfertigpfähle in den Boden gerammt. Pfahlgründungen gibt es immer wieder in Gießen; auch wenn sie nicht so lautstark und lang andauernd sind wie im früheren US-Depot.
Welche Gebäude in Gießen stehen sozusagen auf Stelzen?
Sehr viele. Von den Neubauten der letzten 20 Jahre zum Beispiel die Galerie Neustädter Tor, das Jobcenter, das B&B-Hotel und aktuell der Anbau der Kongresshalle. Schon vor Jahrhunderten gab es Pfahlgründungen, in der Regel aus Eichenholz, die immer wieder bei Ausgrabungen ans Licht kommen. Etwa 2019 bei der baustellenbegleitenden Grabung in der Schanzenstraße: Offenbar wurde im 16. Jahrhundert Abrissmaterial aus Fachwerkhäusern genutzt, um damit Mauern zu stabilisieren.
Baubarbeiten in Gießen: Was ist eine Pfahlgründung?
Die Pfahlgründung ist eine Variante der Tiefgründung. Sie wird nötig, wenn die oberen Bodenschichten nicht tragfähig genug sind und ein Austausch der Erde zu aufwendig wäre. Mit Pfählen werden Lasten von Bauwerken auf tiefere, stabilere Bodenschichten gestellt. Sie werden in den Baugrund gebohrt, gerammt oder per Hochdruckinjektion hergestellt. Laut dem Internet-Lexikon Wikipedia werden wegen der Schäden durch Erschütterungen im innerstädtischen Bereich kaum noch Rammpfähle verwendet.
Ist der Untergrund in Gießen besonders instabil?
Ja und nein. Heimische Bauexperten erklären auf GAZ-Anfrage unisono: »Gießen ist keine Stadt mit ungewöhnlich instabilem Untergrund.« Bodenarten wie Lehm oder Ton, die je nach Wassergehalt mehr oder weniger tragfähig sein sowie auch quellen und schrumpfen können, kämen überall in Flussnähe vor. Eine weitere Ursache für instabile Untergründe sind menschengemachte Ablagerungen – ebenfalls keine Gießener Spezialität. Allerdings: Wo der Boden feucht ist, ist der Wassergehalt ungewöhnlich hoch. Der Landesarchäologe Udo Recker preist den Untergrund der Gießener Innenstadt als »einzigartig« in Hessen: Dank der Feuchtigkeit bleibe Holz als Zeuge der Stadtgeschichte über Jahrhunderte besonders gut erhalten. Es hat also gute Gründe, dass die Stadt, die im Volksmund von »Schlammbeisern« bewohnt wird, das Wasser im Namen trägt. Dieser geht zurück auf die Bezeichnung »zu den Giezzen«; das bedeutet Rinnsale.
Weiß ein Bauherr vorab, wie tragfähig der Untergrund ist - oder kann es Überraschungen geben?
Bauherren können sich beim Umweltamt nach den geologischen Gegebenheiten erkundigen, erklärt die Stadt Gießen auf GAZ-Anfrage. Dringend empfohlen sei eine Baugrunderkundung durch ein geologisches Fachbüro. »Sie wird in der Regel auch immer durchgeführt.« Aber vielleicht nicht immer im ausreichenden Maße? Beim VGP-Logistikpark stellte sich die Notwendigkeit der Pfahlgründung jedenfalls erst bei Erstellung der Hochbaustatik heraus. Und auch beim Telegrafenamt hinter der Alten Post wurden die sechs Wochen Verzögerung mit einer unerwarteten »Klippe« von Fels zu Schlamm begründet. Der Geologe Markus Riegels, Geschäftsführer des Gießener Unternehmens Geonorm, das seit 1987 Baugrunderkundungen durchführt, betont: Solche unliebsamen Überraschungen gebe es nicht nach kleinräumigen fachgerechten Bohrungen. Seine Mahnung: »Das Wissen über ein Nachbargrundstück reicht nicht aus.«
Um wie viel teurer und langwieriger wird ein Bau, wenn Pfähle notwendig sind?
Internetforen nennen Zusatzkosten für ein Einfamilienhaus zwischen 15.000 und 40.000 Euro. Markus Riegels betont indes, eine frühzeitige Erkundung des Untergrunds spare Geld. Nur so könnten mögliche Gründungsvarianten auf Wirtschaftlichkeit geprüft werden. Ansonsten drohten Baustopps oder Reparaturen.
Logostikpark in Gießen: Lärm - Ende in Sicht
Die Rammarbeiten am VGP-Logistikpark im ehemaligen US-Depot sollen bis 8. Mai beendet sein. Dieses Ziel sei nach wie vor aktuell, erklärt Landkreis-Sprecher Dirk Wingender auf GAZ-Anfrage. Laut dem Kreis bewegen sich sowohl die Geräusche als auch die Erschütterungen im zulässigen Rahmen.