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Ukrainerin soll wieder aus Gießen wegziehen – Mitbewohnerin kämpft für sie

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Von: Kays Al-Khanak

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Eine Frau aus der Ukraine hat in Gießen Zuflucht gefunden. Nun soll sie aber umziehen müssen. (Symbolbild)
Eine Frau aus der Ukraine hat in Gießen Zuflucht gefunden. Nun soll sie aber umziehen müssen. (Symbolbild) © Stefan Sauer/dpa/dpa-tmn/Symbol

Eine Ukrainerin hat sich nach der Flucht in Gießen eingelebt. Nun soll die Frau aber in einen anderen Landkreis ziehen. Ihre Mitbewohnerin kämpft dafür, dass sie bleiben darf.

Gießen – Bei Barbara Junge steht ein Klavier, das schon lange niemand mehr genutzt hat. Doch seitdem Sofia bei ihr wohnt, ist das Haus wieder voller Musik. Die Ukrainerin ist vor dem russischen Angriffskrieg in ihrer Heimat geflohen und in einer ruhigen Gießener Gegend untergekommen. Sie hat sich dort eingelebt, Behördengänge hinter sich gebracht, und nun besucht sie einen Deutschkurs.

Doch das für die Verteilung der ukrainischen Geflüchteten zuständige Regierungspräsidium (RP) Darmstadt hat ihr nun einen Zuweisungsbescheid zugesandt, klassischer Behördenklang. Tenor: Sie soll im Lahn-Dill-Kreis untergebracht werden. Unverzüglich. Einspruchsfrist innerhalb von vier Wochen. Mit freundlichen Grüßen. Junge sagt: »Mann kann einen Menschen doch nicht einfach hin und her schieben.«

Junge und Sofia heißen nicht wirklich so. Sie wollen anonym bleiben, weil sie sich sorgen, dass der Gang an die Öffentlichkeit negativ ausgelegt werden könnte. Aber einfach nur abwarten? Barbara Junge sagt: »Ich würde alle Hebel in Bewegung setzen, damit sie bleiben kann.«

Geflüchtete aus der Ukraine in Gießen vorübergehend untergekommen

Innerhalb Hessens werden die ukrainischen Geflüchteten durch das RP Darmstadt in die Landkreise und kreisfreien Städte zugewiesen. Deren Aufnahmequote berechnet sich anhand eines festgelegten Schlüssels. Dabei macht es einen Unterschied, ob ein Geflüchteter aus einer Erstaufnahmeeinrichtung (EAEH) zugewiesen wird - oder nach seiner Ankunft in Deutschland bei Verwandten oder Bekannten untergekommen ist.

Bei Geflüchteten, die in einer EAEH registriert und dort vorübergehend untergebracht wurden, greift der Verteilungsschlüssel. Wer aufgrund von verwandtschaftlichen oder persönlichen Beziehungen in einer Kommune untergekommen ist und dort bei der Ausländerbehörde registriert wurde, ist diesem Landkreis zugeordnet, erklärt ein Sprecher des RP Darmstadt auf Anfrage dieser Zeitung: »Ein Wohnortwechsel nach dem Erhalt eines Zuweisungsbescheids ist dann nur noch unter bestimmten Umständen möglich und bedarf einer Prüfung.« Junge spricht in diesem Zusammenhang von einer »zähen Sache«. Sie hat sich mit einigen Behörden in Verbindung gesetzt - und von niemandem eine so richtig zufriedenstellende Antwort bekommen. Ihre Sorge: Dass die Frist zum Widerspruch abläuft - und Sofia wieder umziehen muss.

Ukrainerin flieht über Rumänien nach Gießen

Dabei wäre es für die Ukrainerin besser, endlich an dem Ort anzukommen, an dem sie sich auch wohlfühlt. Als in ihrer Heimatstadt in der Ostukraine die ersten Bomben fallen, steigt sie in den Zug und flieht. Bei ausgeschaltetem Licht rattert die Bahn durchs Land. Erstes Etappenziel: Rumänien. Zweites Ziel: Eine mittelhessische Stadt, in der eine Bekannte wohnt, die vor 30 Jahren die Ukraine Richtung Deutschland verlassen hatte. Dort kommt sie mit weiteren Landsleuten unter. Nur: Die Wohnung der Bekannten ist für so viele Menschen nicht ausgelegt. Die Bekannte meldet die Gäste bei der zuständigen Ausländerbehörde, weist aber darauf hin, dass die Aufnahme wegen der Wohnsituation nur vorübergehend sei.

Ukrainische Geflüchtete sind bei einem Umzug mit bürokratischen Hürden konfrontiert.
Ukrainische Geflüchtete sind bei einem Umzug mit bürokratischen Hürden konfrontiert. © Red

Bei einer Privatfeier erfährt Junge von dem Dilemma der Frau. Weil sie sowieso einen Teil ihres Hauses für eine ukrainische Geflüchtete zu Verfügung stellen will, sagt sie zu, Sofia aufzunehmen. Sie geht mit ihr zusammen in die Kleiderkammer, um sie mit Kleidung einzudecken, begleitet sie zum Einwohnermeldeamt und zur Ausländerbehörde in Gießen. Das Sozialamt wird informiert, ein Konto eröffnet. Und: Sie meldet Sofia für einen Deutschkurs an.

Freundschaft entsteht zwischen Gießenerin und Geflüchteter Frau aus Ukraine

Englisch spricht Sofia nicht - Russisch nicht mehr, obwohl sie es könnte. Die beiden Frauen kommunizieren über das Smartphone. Google-Übersetzer sei Dank. Hat ein wenig was vom Universalübersetzer bei Star Trek, wo jeder jeden verstehen kann, egal aus welchem Teil der Galaxis er kommt. Doch die beiden merken schnell, dass sie nicht aus unterschiedlichen Ecken des Universums stammen. Sie verstehen sich trotz der sprachlichen Barriere blendend. Junge fährt mit Sofia Bus, um ihr zu zeigen, wo sie was erledigen kann.

Sofia revanchiert sich für den Einsatz ihrer Gastgeberin, kocht für sie und schenkt ihr Schokolade. Junge sagt: »Das braucht sie gar nicht. Die Tafeln stapeln sich schon bei mir. Aber sie will das so.« Besonders beeindruckt ist Junge davon, dass Sofia eine fröhliche Frau ist - trotz der bedrückenden Nachrichten von ihrer Familie und ihren Freunden aus der Heimat. Mit denen telefoniere sie täglich.

Humanitäre Gründe für Verbleiben der Ukrainerin in Gießen nötig

Nachgefragt beim RP: Was sind denn die »bestimmten Umstände«, unter denen ein Wohnortwechsel von einem Landkreis in den anderen möglich wäre? Die Behörde antwortet: »Geflüchtete aus der Ukraine können beim RP Darmstadt einen Antrag auf Umverteilung stellen. Die Umverteilung stellt eine Ausnahme zur der bereits erfolgten Erstzuweisung dar. Es müssen hierbei Gründe, wie das Zusammenführen der Kernfamilie oder sonstige humanitäre Gründe von vergleichbarem Gewicht, glaubhaft vorgetragen werden.«

Sofia, erzählt Junge, habe vor allem das Musikmachen vermisst. Mit dem Klavier und einem aus der Nachbarschaft ausgeliehenen Cello treten die Sorgen um ihre Lieben und die offenen Fragen, wo sie in Deutschland denn nun ankommen und leben darf, womöglich in den Hintergrund. Junge betont aber: »Diese Unklarheit sorgt für eine große Verunsicherung.« (Kays Al-Khanak)

Generell ist die Suche nach einer Wohnung für Geflüchtete aus der Ukraine sehr schwierig. Der Wohnungsmarkt in Gießen ist ohnehin schon angespannt.

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