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Ehefrau fast totgestochen: Gerichtsurteil überrascht Mann offenbar

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Von: Jonas Wissner

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Auf einer Autofahrt an einem Abend im Juli 2021 soll ein 34-Jähriger seine damalige Ehefrau fast totgestochen haben. Nun ist das Urteil gegen ihn gefallen. (Symbolbild)
Auf einer Autofahrt an einem Abend im Juli 2021 soll ein 34-Jähriger seine damalige Ehefrau fast totgestochen haben. Nun ist das Urteil gegen ihn gefallen. (Symbolbild) © DVR/dpa

Im Juli 2021 soll ein 34-Jähriger seine damalige Ehefrau beinahe getötet haben. Sie stürzte sich aus dem fahrenden Auto. Nun ist er in Gießen zu einer Haftstrafe verurteilt worden. 

Gießen - Verteidiger Alexander Hauer wendet sich nach der Urteilsbegründung seinem Mandanten hinter der Plexiglasscheibe zu. Mit dieser Strafe hatte der junge Mann offenbar nicht gerechnet - und sich einen Freispruch erhofft. Doch nach acht Verhandlungstagen war die fünfte Große Strafkammer des Landgerichts in Gießen überzeugt, dass seine Version jenes verhängnisvollen 9. Juli 2021 nicht der Wahrheit entspricht: Wegen versuchten Totschlags und gefährlicher Körperverletzung ist ein damals 34-Jähriger am Donnerstag (9. Juni) zu acht Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden.

Die Kammer sah es als erwiesen an, dass er an jenem Abend während einer Autofahrt in Streit mit seiner Ehefrau geraten war, von der er getrennt lebte. Sie saß auf dem Beifahrersitz, die zweijährige Tochter hinten. Dann hat er die Frau nach Ansicht des Gerichts geschlagen, an den Haaren gezogen, schließlich ein Messer gezückt und ihr mehrfach in Brust und Bauch gestochen.

Ihr gelang es, die Beifahrertür zu entriegeln und sich mit einem Sturz aus dem fahrenden BMW auf der Landstraße zwischen Mainzlar und Treis (Kreis Gießen) zu befreien. Die Fahrerin eines anderen Wagens hatte das gesehen und geistesgegenwärtig reagiert. Sie holte die schwerstverletzte Frau in ihr Auto, rief Hilfe. Der Mann war weitergefahren. Nur durch eine Not-OP konnte das Leben des Opfers gerettet werden.

Prozess nach Bluttat im Kreis Gießen: Mit Tötungsvorsatz gehandelt

Auch die Zeit nach dieser Tat spielte im Prozess eine Rolle: Der Angeklagte war anschließend in seine Wettenberger Wohnung gefahren, nahm die beiden anderen gemeinsamen Kinder mit und setzte sich ins Ausland ab. Am 31. Juli wurde er aufgrund eines europäischen Haftbefehls an der bulgarischen Grenze festgenommen und ausgeliefert. Die drei Kinder waren in einem Heim untergebracht worden, erst im Oktober wurden sie nach Deutschland geholt.

Für eine Verurteilung wegen versuchten Mordes, wie von der Staatsanwaltschaft gefordert, verlangt das Strafgesetzbuch den Nachweis von zumindest einem »Mordmerkmal«. Staatsanwalt Klaus Bender ging von Heimtücke aus, der 34-Jährige habe »von vorneherein« Tötungsabsicht gehabt und die »Arglosigkeit« der Frau ausgenutzt.

Das sah die Kammer in GIeßen anders: Zwar habe der Mann spätestens beim Messereinsatz mit Tötungsvorsatz gehandelt, so Vorsitzende Richterin Regine Enders-Kunze in der Urteilsbegründung. Laut der Frau soll er während der Stiche gesagt haben: »Ich töte dich!«

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Dass sie auch zum Zeitpunkt der Stiche »arglos« gewesen sei, könne man angesichts des Streits zuvor allerdings nicht annehmen, »Heimtücke liegt nicht nachweisbar sicher vor«. Die Schläge wurden als gefährliche Körperverletzung gewertet - es sei nicht plausibel, dass er sie damit habe töten wollen. Aus Sicht der Kammer war der Angeklagte voll schuldfähig. Zu seinen Gunsten wurde angerechnet, dass er nicht vorbestraft ist. »Die erheblichen Folgen, die diese Tat hatte«, die Traumatisierung der Kinder und die schweren körperlichen und psychischen Verletzungen der Frau wirkten sich laut Enders-Kunze dagegen strafverschärfend aus. »Die Familie ist zerbrochen.«

Im Wesentlichen folgte das Gießener Gericht den Angaben der Frau, die es durch Zeugen und Sachverständige gestützt sah. Dagegen erscheine die Version des Mannes »unstimmig, teilweise widersprüchlich«. Er hatte beteuert, dass die Frau ihn mit dem Messer zu attckieren versucht und ins Lenkrad gegriffen habe. Bei der Abwehr der Stiche habe er sie mehrfach getroffen, während er mit den Oberschenkeln gelenkt haben will.

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Die Strafkammer ging nicht von einer längeren Planung der Flucht mit den Kindern aus - auch, weil der Mann vorher nichts gepackt habe. Der Vorwurf der »Entziehung Minderjähriger« war zuvor fallen gelassen worden, auch mit Blick auf die zu erwartende deutlich höhere Strafe wegen der versuchten Tötung. Gleiches galt für eine Vergewaltigung der Frau, die vor der Fahrt in seiner Wohnung stattgefunden haben soll und ihr zufolge einer der Streitanlässe im Auto war. Der Angeklagte bestritt diese Tat.

Die Frau hatte zu Prozessbeginn als Zeugin ausgesagt, war zugleich Nebenklägerin - aus Hauers Sicht ein Grund, das Verfahren einzustellen. Sein Tenor: Sie habe als Hauptbelastungszeugin womöglich Akteneinsicht nehmen können, das widerspreche einem fairen Verfahren. Die Frau bestritt, dass sie die Akten gekannt habe - und die Kammer sah ein faires Verfahren als gewährleistet an.

Inzwischen ist das Ex-Paar geschieden. Beide stammen aus dem Irak, kamen 2015 nach Deutschland. Die Ehe war ihr zufolge auf Druck der Familie zustande gekommen, sie war damals noch minderjährig. Im Prozess ging es auch um Konflikte in der Beziehung, es war von Gewalt von beiden Seiten die Rede.

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Staatsanwalt Bender hielt die Angaben der Frau für glaubwürdig. Er hatte zehn Jahre Freiheitsstrafe unter anderem wegen versuchten Mordes gefordert - und auch den Zusammenbruch der Frau am ersten Prozesstag ins Gedächtnis gerufen, als sie den Angeklagten erblickt hatte. An eine solche Reaktion könne er sich aus 20 Berufsjahren nicht erinnern.

Nebenklagevertreterin Ebru Esmer-Yildiz rückte auch die Sorgen ihrer Mandantin nach der Tat in den Fokus. »Sie wusste wochenlang nicht, wo ihre Kinder sind, ob sie noch leben, ob es ihnen gut geht.« Ihr Eindruck vom »monatelangen bürokratischen Kampf« um die Rückholung der Kinder: »Die Behörden gaben sich nur wenig Mühe.«

»Wir waren nicht dabei«, sagte Verteidiger Hauer. Er bezweifelte die Aussagen der Frau, arbeitete sich an der Argumentation der Anklage ab. Für den Fall, dass das Gericht dieser folge, beantragte er vier Jahre Freiheitsstrafe - oder alternativ einen Freispruch im Sinne seines Mandanten. Gegen das Urteil kann Revision eingelegt werden, Hauer will sich darüber nun Gedanken machen. (Jonas Wissner)

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