Gießen liefert wieder Ekelbilder: Lahnaue und Stadtpark versinken im Dreck
Jedes Jahr die gleichen Bilder: Einige Gießener hinterlassen eine ekelerregende Mischung aus Einweggeschirr und Essensresten. Wer benimmt sich so? Ein Alltagsproblem aus dem „Blickwinkel“.
Gießen – Wahrscheinlich wird die Debatte angesichts von Bildern wie diesem wieder losgehen, und es werden die üblichen Rufe nach dem Staat, der in diesem Fall die Stadt Gießen ist, laut werden: Mehr und größere Mülleimer, höhere Leerungsintervalle, mehr Beratung, mehr Müllscouts, mehr Grüne Engel, noch eine Sauberkeitskampagne, noch ein Clean-up-Walk und so weiter. Dabei wissen wir es doch besser: Das Problem sind wir. Wir verursachen diesen ekligen Müll, der sich jetzt mit den ersten schönen Tagen vor allem dort ansammelt, wo wir uns im Freien gerne aufhalten.
In Gießen sind das in erster Linie die Lahnaue und der Stadtpark Wieseckaue mit ihren vielen attraktiven Aufenthaltsmöglichkeiten. Eine Faustformel scheint dabei zu sein: Je attraktiver der Platz, desto mehr Dreck. Rund um den Christoph-Rübsamen-Steg oder am Hochwasserschutzdamm sieht es nach schönen Wochenenden und warmen Tagen am schlimmsten aus. Rund um den Skatepark und die neue Pumptrackbahn im Stadtpark türmten sich währen der Frühjahrsmesse morgens Abfall und Essensreste.
Müll-Problem in Gießen: Riesenschweinerei auf Kosten der Allgemeinheit
Man fragt sich, was in Leuten vor sich geht, die offensichtlich gruppenweise in der Natur und in Parks ihr Abendessen aus Einwegplastikgeschirr einnehmen und die schmierigen Fressnäpfe an Ort und Stelle einfach stehen- und liegenlassen. Ein Festschmaus für die Ratten. Auf dem nächsten Abfalleimer, der ein paar Meter neben einer Müllansammlung an der Lahn steht, klebt die Parole »No rats«. Mit der Kampagne wollten die Mittelhessischen Wasserbetriebe vor einigen Jahren auf das Ratten-Problem – auch in Gießen – aufmerksam machen. Da hat auch der schicke Anglizismus nicht geholfen.
100 Tonnen Dreck wurden vor Corona Jahr für Jahr von der Stadt aus den Gießener Grünanlagen geborgen. Das ist eine Riesenschweinerei auf Kosten der Allgemeinheit. Und bei wem sich zu Hause zu viel »gelber« oder »grauer« Abfall für das private Volumen angesammelt hat, der fährt ihn zum nächsten Abfalleimer an die Lahn. Hier kommt das Gartenamt garantiert häufiger vorbei und nimmt alles mit.
Müll in der Öffentlichkeit liegen lassen: Junge Erwachsene tun es öfter
Aber wer sind die genau unter uns, die den Ekelabfall hinterlassen? Eine Studie der Berliner Humboldt-Universität zum »Littering« (Wegwerfen, Verstreuen) im öffentlichen Raum hat vor einigen Jahren für Frankfurt einige Ergebnisse erbracht. Junge Erwachsene (21 bis 30 Jahre) lassen danach am häufigsten Müll liegen, gefolgt von Jugendlichen (bis 20 Jahre). Diese Gruppe schätzt ihr Verhalten allerdings schlechter ein als alle andere Altersgruppen. Auch über 50-Jährige lassen ihren Abfall häufiger auf Plätzen, Gehwegen und Grünflächen zurück als früher, vor allem wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Die einzige Altersgruppe, die allein seltener Müll liegen lässt als in der Gruppe, sind die 14- bis 17-Jährigen.

Eltern verhalten sich in puncto Müllbeseitigung etwas besser als kinderlose Erwachsene. Frauen stehen Männern in Nichts nach. Die meisten Müllsünder stammen aus »Stadtgebieten mit ungünstiger Sozialprognose«. Einen Zusammenhang zum Bildungsstand gibt es der Studie zufolge nicht. Ein Mangel an Abfallbehältern ist der Studie zufolge nur selten der Grund dafür, dass Müll liegen bleibt. Bequemlichkeit schon eher. »Ellenbogendenken, fehlende Rücksichtnahme und die Vorstellung, irgendjemand macht das schon weg«, werden in der Studie als Gründe genannt. Alkohol senke die Hemmschwelle, Müll liegen zu lassen.
Nach meiner Beobachtung ist es eine Minderheit, die sich derart asozial verhält. Aber in einer 90 000-Einwohner-Stadt wie Gießen reicht das aus, um das gesamte Erscheinungsbild zu beeinträchtigen. Seit Juli vergangenen Jahres darf in der EU kein Plastikgeschirr mehr produziert werden. Übergangsfristen und der »Abverkauf« tragen aber zu andauernden Vermüllung von Landschaft und Stadtgrün bei.
Gießen: Verpackungssteuer von Palmer als Vorbild?
Bilder, wie das auf dieser Seite, sind im März und April einige entstanden, sozusagen im Vorbeifahren auf dem Fahrrad, meistens montags vor der Arbeit, in der Mittagspause und nach Feierabend. Den vorsichtigen Optimismus der Stadt Gießen, der zu Beginn des Jahres im Rahmen unserer Serie über die »Sieben Stadtplagen« geäußert wurde, teile ich nur bedingt. »Das Bewusstsein, dass der Zustand von Grünanlagen auch einer ist, der vom Verhalten des Einzelnen abhängig ist, könnte geweckt worden sein«, ließ der Magistrat damals mit Blick auf die vielen Gegenmaßnahmen verlauten.
Zu diesem Zeitpunkt schaute man nicht nur in Gießen nach Tübingen, wo seit dem ersten 1. Januar eine kommunale Steuer auf Einwegverpackungen erhoben wurde, gegen die freilich Klagen anhängig waren. Eine solche Steuer auf Einwegverpackungen in der Gastronomie hatte es in Gießen und rund 50 anderen deutschen Städten in den 1990er Jahren gegeben, ehe das Bundesverfassungsgericht die Steuer für rechtswidrig erklärte, weil Fast-Food-Ketten erfolgreich klagten. Jetzt auch wieder. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg gab der Klage einer Tübinger McDonalds-Filiale recht. Vor wenigen Tagen beschloss der Tübinger Gemeinderat, vor das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zu ziehen. Ich drücke Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer die Daumen. (Burkhard Möller)